Erinnerung an das Stargarder Heimattreffen 2009

Helga Haupt, geb.Knappe
Hauptstraße 10, 23627 Sarau
Tel: 04509 70336

Sehr geehrter Herr Serfass!
Nach eingehender Lektüre des Stargarder Jahresblattes 2010 möchte ich endlich meinen seit langem geplanten Beitrag schicken.

Ich war dabei! Vom 18. bis 24. September 2009 fuhren mein Mann Hans-Jürgen Haupt (gebürtiger Lübecker) und ich (gebürtige Stargarderin) und dort wohnhaft bis 11.2.45 in der Luisenstraße 17) erstmals mit zum Heimattreffen in meine Geburtsstadt. Damit erfüllte sich für mich ein seit der Flucht in der Kindheit gehegter Lebenswunsch. Ich war zum ersten Mal seit der überstürzten Flucht am 11.2.45 wieder in Stargard! Und dann hatte ich noch das Glück, mit meinem Mann in der ehemaligen Luisenstraße im Hotel Kleine Mühle zu wohnen, nur wenige 100 Meter entfernt, wo einst mein Elternhaus stand. Für mich waren die Tage im September 2009 ein nicht zu übertreffendes, wunderschönes Erlebnis, das mich aussöhnte mit der Vertreibung aus dem Paradies, denn so empfand ich damals die Flucht das nachfolgende Elend. In Stargard schien vom 18. bis 24. September die Sonne, außen und innen, denn wir begegneten ausschließlich liebenswerten, gastfreundlichen und hilfsbereiten Polen. Dies ist jetzt ihre Heimat, meine ist in Schleswig-Holstein, in Groß Sarau, denn hier im Norden (Eutin) habe ich vor über 50 Jahren meinen Mann kennengelernt und mein Glück gefunden. Es ist gut so!

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Doch nun möchte ich einige Erlebnisse erzählen, die ich in der Heimat meiner Kindheit hatte und die dazu beitrugen, dass ich meinen inneren Frieden mit Stargard schließen konnte. Vor Antritt der Reise im September. 2009 war meinem Mann und mir klar, dass die Mitreisenden alt und viele noch wesentlich älter als wir sein könnten und wahrscheinlich nur sehr wenige jünger als wir wären, dass es also evtl. eine sehr anstrengende und belastende Reise werden könnte. Gleich am ersten Abend im Hotel Kleine Mühle fand sich unsere muntere Tischrunde zusammen: Frau Zelm, Frau Lange, Frau Siebert, Frau Sievert und Tochter, Frau Ganger sowie mein Mann (er war der "Hahn im Korb"!) und ich. Obgleich einige der Damen schon über 80 Jahre alt waren, bildeten wir eine so fröhliche, erzählfreudige und unternehmungslustige Gruppe, dass wir uns erst wieder am Abreisetag trennten. Täglich freuten wir uns auf das Beisammensein beim Frühstück (sehr lecker und reichhaltig!) und Abendessen (super lecker!). Wir hatten viel Spaß zusammen. (s. Foto vom Abreisetag!) Der 19. September (2. Tag) war für mich wohl der schwerste Tag: Die Feier im Kulturzentrum war beeindruckend und schön. Dann um 13 Uhr der Gottesdienst in der Marienkirche. Hier packten mich Weinkrämpfe und ich habe den ganzen Kindheitskummer um die verlorene Heimat hinausgeweint, denn am 24. Dezember 1944 saß ich zum letzten Mal zur Christvesper in dieser Kirche zwischen Oma und Opa, mit Patentante und dem jungen Patenonkel, der gerade Heimatkurzurlaub hatte, während meine Eltern Erwin und Elisabeth Knappe (geb. Wollermann) in der Luisenstraße 17 das Weihnachtsessen für uns alle  vorbereiteten. Mir wurde an diesem 19. September klar, dass alle meine lieben Angehörigen von damals bereits gestorben sind, dass ich niemanden mehr nach Einzelheiten hier in Stargard fragen kann. Ach, ich hätte meine Eltern noch so vieles fragen wollen! Vorbei!

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Nach diesem Gottesdienst aber war mein Kummer fortgespült und ich war offen für all das Schöne, das ich in Stargard entdecken und erleben durfte. Noch an diesem Nachmittag kamen wir in Begleitung von Herrn Peter Nycz in den Thorner Weg 1 zum Wohnhaus meiner Großeltern Hedwig und Hermann Wollermann. Diese Eisenbahnersiedlung (Großvater war Eisenbahner gewesen) war im Krieg erhalten geblieben. Ich hatte alte Fotos mit. Wir hielten auf der gegenüberliegenden Seite beim Haus 2 und schauten hinüber zum Haus 1 und verglichen mit meinen alten Fotos. Da traten zwei junge Männer, die im Vorgarten von Haus 2 gesessen hatten, zu uns. Sie erkannten auf meinen alten Fotos (s. beigefügte Fotos!) das Haus 1 sprachen mit Herrn Nycz und holten ihre Mutter aus Haus 2.

Sie sprach etwas Deutsch und wollte uns gleich zu sich ins Haus zum Kaffee einladen. Dabei waren wir doch Fremde für sie! Herr Nycz erklärte ihr, dass ich gern, wenn es möglich wäre, in das Haus 1 möchte, mein ehemaliges Großelternhaus. Die Polin war sofort bereit zu vermitteln, lief hinüber und kam strahlend zurück. So gelangte ich ins Haus von Oma und Opa. Die junge Frau Luiza Kowalska, die dort mit ihren Kindern lebt, hatte die Wohnung von ihrer Großmutter übernommen. Herr Nycz dolmetschte fleißig. So hatte ich etwas gemeinsam mit dieser jungen Frau: Bis Februar 45 hatten meine Großeltern hier gelebt, später ihre Großmutter. Plötzlich verschwand Luiza im Nebenzimmer und kam mit einer zerkratzten Glas-Wunderkugel zurück, die sie mir in die Hand drückte. Ihre Großmutter hatte sie einst beim Graben im Garten gefunden. Es ist gut möglich, dass ich dieses Spielzeug einst im Garten der Großeltern verloren hatte. Leider kann ich keinen meiner Lieben mehr fragen. Aber Luizas Geschenk bereitet mir viel Freude, ich halte es in Ehren und habe schon vielen Freunden erzählt, wie ich dazu kam. Am selben Tag führte Herr Nycz uns auch noch zur ehemaligen Christuskirche. Wieder ein besonderes Erlebnis für mich, denn hier wurde ich kurz nach meiner Geburt am 27.11.1938 getauft.

 

Erinnerung

Meine Mutter, Elisabeth Knappe, geb.
Wollermann, mit mir auf dem Arm, davor
stehend meine Schwester Sigrid.
Stargard,Thorner Weg 1 ca. Dez. 1939

Erinnerung

Ich, Helga vor Omas und Opas Haus, Thorner
Weg 1. Stargard, So. 20.9.2009

Auch der 22. September bot wunderbare Erlebnisse für mich: Da ich im Herbst 1944, noch fünfjährig, eingeschult wurde (Ihna-Schule), versuchte ich am Morgen gemeinsam mit meinem Mann meinen einstigen Schulweg wiederzufinden. Ab Hotel Kleine Mühle ging es stadteinwärts die Luisenstraße hinunter. Wir machten halt wo einst Haus 17 gestanden hatte. In ein von daheim mitgebrachtes Miniglas füllte ich etwas Heimaterde. In der Luisenstraße 17 befand sich früher auf dem Hof in Nebengebäuden die Autowerkstatt von Herrn Willi Karl, in der mein Vater als Meister arbeitete Im Haus 17 wohnten vier Familien: links wir (Mutter, Vater, meine Schwester Sigrid und ich), darunter Familie Rohleder mit Mutter, Opa, den Söhnen Günter und Fritz (mein Spielkamerad in der Sandkiste). Im Souterrain, meine ich zu erinnern, wohnte noch ein jüngeres Ehepaar, dessen Name ich nicht mehr weiß. Rechts oben Familie Kark (Mutter, Vater, die Töchter Ingrid u. Bärbel), darunter Familie Utecht (Mutter, Vater, Sohn Jürgen).

Dann ging es weiter auf meinem Schulweg bis zur Ihna-Brücke am Luisenplatz. Hier hatte mich einst mein Vater hochgehoben, weil ich über das Geländer in die Ihna spucken wollte. Ich tat es nun auch und dachte dabei an meinen Vater. Ob er dort oben wohl schmunzeln würde, wenn er sehen könnte, was seine einst kleine Tochter nun als gestandene Großmutter tat? Danach führte ich meinen Mann fast wie in Trance den Weidensteig entlang (wie oft hatte ich mich hier bei plötzlichem Fliegeralarm an einen großen Baum gepresst, um mich vor Flugzeugen zu verstecken!), dann über eine kleine Ihnabrücke zum Stadtpark und von dort über die Straße direkt auf die Ihna-Schule zu. Meine Mutter brachte mich täglich hin und holte mich auch täglich ab. Soweit ich mich erinnern kann, wurde aber für uns Erstklässler der Schulunterricht schon Anfang November 44 wegen des häufigen Fliegeralarms eingestellt. In meinem Klassenraum standen an der Garderobenhakenwand immer einige BDM-Mädchen bereit, die uns bei plötzlichem Fliegeralarm sofort in den Luftschutzkeller bringen sollten. Aber meine Mutter hatte mir eingeprägt, die Jacke am Sitzplatz zu behalten, nicht mit in den Luftschutzkeller zu gehen, sonder Ranzen und Jacke zu greifen und zu rennen, so schnell ich konnte, hinüber in den Stadtpark, um unter den Bäumen Schutz zu suchen. Sie würde bei Fliegeralarm sofort zu mir kommen. Und sie kam immer! Da ich wieselschnell den BDM-Mädchen entwischte, fand meine Mutter mich meistens schon im Weidensteig, zitternd an einen Baum gepresst. Sie sprach beruhigend und tröstend auf mich ein und wenn der "Spuk" vorbei war, gingen wir heim.

Nun im September 2009 freute ich mich, meinem Mann meinen Schulweg von einst sowie die Schule zeigen zu können. Im Weidensteig wurden wir wiederholt von freundlichen jungen Polen auf deutsch gegrüßt. Sie wussten sicher von unserem Heimattreffen und auf Grund unseres nicht mehr jugendlichen Aussehens und des angesteckten Buttons "schalteten" sie und nahmen an, dass wir zur Gruppe gehörten. Eine freundliche Geste!

Ein weiteres schönes Erlebnis hatte der 22. September für uns bereit: Es ging nachmittags per Bus zum Madüsee. Wie oft sind früher meine Eltern im Sommer am Wochende per Rad mit uns Kindern zum Baden gefahren! Das Rad meiner Mutter war dann beladen mit Spielzeug, Picknickkorb, Badesachen und Liegedecke, und ich saß bei meinem Vater vorn im Korb an der Lenkstange und meine Schwester hinten auf dem abgepolsterten Gepäckträger. Schöne Erinnerungen! Natürlich zog ich nun Schuhe und Strümpfe aus, krempelte die Hosenbeine hoch und watete im Wasser meines Kindheitssees. Auch hatte ich wieder ein Miniglas bereit, um mir etwas Strandsand einzufüllen und als Erinnerung mitzunehmen.

Hier in Groß Sarau stehen in einer Bücherwand bei uns 5 kleine Gläschen mit Schraubdeckel:

19.9.2009 Sand von der Luisenstr. 17
21.9.2009 Strandsand von Rügenwaldemünde
21.9.2009 Muscheln vom Strand
22.9.2009 Strandsand vom Madüsee
23.9.2009 Strandsand von Misdroy
Luiza zerkratzte alte Wunderkugel


Mit dieser Stargardreise im September 2009 konnte ich Frieden schließen mit dem Verlust der Kindheitsheimat und mit mir selbst. Ich bin dankbar, dass ich meinem Mann meine geliebte Geburtsstadt zeigen und mit ihm Wege gehen konnte, die ich als kleines Mädchen an der Hand der Eltern gegangen bin und dass wir beide dies bei bester Gesundheit erleben durften mit sehr sachkundiger, freundlicher Reisebegleitung und in der Kleinen Mühle mit dem liebenswerten Wirt Herrn Kosikowski, der sich rührend um seine Gäste kümmerte, an alles dachte, sogar 1 kg polnischen Käse, den wir einige Tage zuvor bei ihm bestellt hatten, am Abreisetag für uns bereit hielt. Wir waren sprachlos!

Mein Mann und ich möchten uns ganz herzlich bedanken bei allen, die diese Reise planten, organisierten und durchführten, bei den Mitreisenden sowie bei unserer fröhlichen, gesprächsfreudigen Tischrunde in der Kleinen Mühle, bei dem immer hilfsbereiten Wirt Herrn Kosikowski und seiner Frau, sowie bei den vielen polnischen Bürgern in Stargard, mit denen wir stets freundliche Begegnungen hatten.

Erinnerung Abschied

 

Abschied unserer lustigen Tischrunde v.l.n.r. Frau Zelm, Frau Lange, Frau Siebert, Frau Sievert, Frau Ganger

vorne sitzend: Helga und Hans-Jürgen Haupt. Stargard vor der Kleinen Mühle
Do. 24. September 2009

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