Stargarder Spaziergänge

Aus Heinz-Jürgen Torff - 2009 "Erinnerungen an Stargard in Pommern"

Wenn ein Fremder sich in Stargard in Pommern niedergelassen hat, lebt er sich in der Regel unendlich schnell ein. Mag er auch - je nach seiner persönlichen Einstellung ­ entweder finden, dass in dem alten Nest eigentlich gar nichts los ist und darob Anschluss an einen der vielen Stammtische suchen, die Kinos bevölkern oder mag er die Augen munter umherschweifen lassen und erstaunt die vielen Reize des trauten lieben Stargard genießen, diese vielen lieben Reize, die zu jeder Jahreszeit jeder Menschenart mit empfänglichen Sinnen in allen Altersstufen Heimatrechte einräumen.

Spaziergänge

Wenn der wohleremitierte Oekonomus - um mit Onkel Bräsig zu sprechen - die alten Herren im Ruhestande, der geborene und der hochwohlgeborene Rentner des Morgens ihre Zähne geputzt haben, dann haben sie schon ihr mühseliges Tagewerk vollbracht. Daheim sollen die Zimmer gereinigt und im Winter die Öfen geheizt werden. Darum öffnen sich die Türen und die sorglich waltende Hausfrau entfernt mit freundlicher Fürsorge den brummenden Alten, und zwar mit den wichtigsten Aufträgen für die Hauswirtschaft, die aber immerhin bis zum Mittagessen erledigt werden darf. Dadurch kommt der erste Grad der Spaziergänger zusammen, das sind die Vormittagsbesucher der städtischen Anlagen. Den einzelnen Treffpunkt bestimmen ohne vorherige Vereinbarung die Wetterlage und die Windrichtung. Sie treten gleich rudelweise auf, befassen sich lebhaft mit Politik und anderen Ärgernissen des Tages. Sie stellen aus ihren Reihen immer ein, zwei, auch drei Originale heraus, die in der Erinnerung der Mitwelt fortleben und deren Gedächtnis auf Kinder und Enkelkinder weitergegeben wird.

Den zweiten Grad haben die alten Frauen inne, die keine Beerdigung versäumen dürfen, sich scharenweise auf dem alten, dem neuen und dem neuesten Friedhof (am Preußenweg, er gehörte allen drei großen Kirchengemeinden) zusammenfinden, oft bis Sonnenuntergang an den Schicksalen ihnen ganz fremder Menschen teilnehmen und so die Geschichte aller Stargarder Familien kennen lernen. Sie finden einfach ihr Vergnügen daran.

Nachtigallsteig

Den dritten Grad bilden die im Beruf stehenden Männer. Sie suchen die Bewegung im Freien in guten Tagen nach der Tagesarbeit und an Sonntagen. Ein solcher Mann führt Mutter am Arm und bändigt zu seiner Erholung seine Sprösslinge mit heute nicht mehr erlaubten Erziehungsmethoden. In schlechten Tagen tritt er frühmorgens in Erscheinung und hält sich vergrämt allein. Der Arzt hat ihm nämlich eine Brunnenkur verordnet und den Brunnen trägt er nun todesahnungsvoll auf dem Nachtigallensteig spazieren, bis er glaubt, diesen glücklich loszuwerden. In dieser Situation sollte man versuchen, ihn niemals anzusprechen.

Der vierte Grad umfasst die goldene Jugend. Schon in den Nachmittagsstunden geht die Karree-Bummelei los. In den Abendstunden findet man sich in der Bahnhofstraße wieder, und noch später belebt man paarweise die Anlagen. Diese Paare sind stets glücklich und zufrieden, sie politisieren selten, schimpfen kaum auf Magistrat und Stadtverordnete. Selbst die Polizei bietet ihnen nur fröhlichen Unterhaltungsstoff und nie werden Gas- und Elektrizitätswerk ob der mangelhaften öffentlichen Beleuchtung geschmäht. Was er, was sie sein könnte, weiß man meist nicht. Sie hat einen Bubikopf, kurzen Rock und raucht eine Zigarette. Er trägt lange Haare, Wickelgamaschen oder Stutzen, meist einen Lodenmantel und raucht eine Zigarette nach der anderen. Beide umschließt ein großes gemeinsames Geheimnis, was nicht immer ausschließt, dass sie vor ihm oder er vor ihr noch ein besonderes hat.

Der fünfte Grad kennt noch gar kein Geheimnis. Die Inhaber dieser Gruppe treten epidemisch auf. Sobald die Sonne den Erdboden erwärmt hat, sitzen sie haufenweise auf den gegen sonstigen Verkehr geschützten Kinderspielplätzen. Sie bauen aus Sand ihre Häuschen, Backöfen, Kuchen, Burgen und sie sehen auch keinen Mundraub darin, wenn sie denselben Sand löffelweise auffressen. Während die Kleinkinderschar ihre Kurzweil übt, sich schlägt und verträgt, werden die Kindermädchen und jungen Mütter von geeigneten Großmüttern auf den reichlich vorhandenen Parkbänken in ihre neuen Aufgaben und in das Stargarder Familienleben so eingeführt, dass sie selbst auch nicht in Verlegenheit kommen, etwaigen früher anfallenden Friedhofsterminen als Besucherinnen nicht auch noch nachkommen zu können.

Man sieht aus dieser Aufzählung, dass Stargard ausgedehnte gärtnerische Anlagen hatte, dass diese auch fleißig besucht und genutzt wurden und dem Ortsfremden, der sich hier niederlassen wollte, konnte gesagt werden, dass wir außerordentlich reich und glücklich damit ausgestattet waren. Aber schon Ende der dreißiger Jahre hatte sich der vierte Grad - die goldene Jugend - nicht nur vom Aussehen her stark verändert. Mit Wickelgamaschen oder Stutzen und den langen Haaren war es vorbei. Uniformen bestimmten jetzt das Stadtbild. Mit dem Bau der Seelhorst-Kaserne wurde die alte Garnison erweitert. Junge Militärs und die kleinen und großen Führer vom Haus der Jugend waren jetzt das Ziel der Stargarder weiblichen Jugend. Eine tadellose Figur und nicht selten die Dienststellung, durch „Lametta" an den Uniformen erkennbar, spielten beim neuen Karreeschieben eine nicht unbedeutende Rolle bei der Auswahl des Partners. Der kommende Krieg und der Heimatverlust machten diesen schönen Jugendträumen oft ein jähes Ende. Aber dass auch hier schon Wurzeln geschlagen wurden, die lange nach Kriegsende noch oder wieder erneut Bestand hatten, zeugen viele erfolgreiche Nachfragen von neuen Familienangehörigen aus den teilweise noch vorhandenen Stargarder Adressbüchern. Die kommenden Frühjahre aber verstärken immer wieder die Erinnerung an Stargarder Spaziergänge und das Karreeschieben in der schönen Jugendzeit.

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