Das war meine Heimat

Hans Flemming
Heinrich-Heine-Str. 1
08491 Limbach
Tel. 03765-36464

01.03.2007 Zu meinem 75. Geburtstag habe ich zum ersten Mal von der Existenz des Heimatvereins Stargard/Pommern erfahren. Mein Schwiegersohn hatte im Internet gesucht und war auf Ihre Homepage gestoßen, wonach er Kontakt mit dem Heimatkreisausschuss aufnahm.

Nach der Flucht aus Stargard habe ich kaum einen Stargarder getroffen, umso größer war nun die Überraschung und die Freude, als mir Tochter und Schwiegersohn die Jahrgänge 2005 und 2006 vom Jahrbuch des Heimatvereins Stargard/Pommern zusammen mit einem Stadtplan und einem Auszug aus der Einwohnermeldeliste 1937, Pyritzer Straße, schenkten. Ich habe diese Hefte wie das interessanteste Abenteuerbuch gelesen. Viele Erinnerungen wurden wach und Namen von Freunden und Ereignissen fielen mir wieder ein, worüber ich nachstehend berichten möchte.

Etwa bis zur 2. Klasse haben wir in der Pyritzer Straße 40 gewohnt. Die Namen Grassmann und Kasten fand ich in den Ausgaben. Sie bewohnten das Vorderhaus. Gitta Grassmann war wenig jünger als ich, wir spielten viel auf dem Hof und mit Siegfried Kasten war ich befreundet. Seine Eltern hatten einen Garten in der Nähe des Sportplatzes. Er musste häufig die Tauben versorgen und ich habe ihn gerne begleitet.

Später zogen wir in die Pyritzer Straße 5, genau gegenüber. Hier konnte man durch das Haus über den Hof auf den Wollweberberg gelangen. Dieser Weg wurde oft beim Spiel benutzt, trotz Drohungen des Hauswirtes Knobloch, der immer im Hochparterre mit Blick auf Garten und Hof am Fenster saß.

Wir Kinder vom oberen Ende der Pyritzer Strasse und vom Wollweberberg waren  eine tolle Bande. Hauptspielfeld waren das Pyritzer Tor und die angrenzenden Anlagen. Das Tor mit seinen drei Durchgängen bot herrliche Ecken beim Versteckspielen. Die Anlagen gehörten uns bis zum Roten Meer, Johannistor und nach unten bis an die Ihna. In den Büschen und Hecken der Anlagen hatten wir Wege und Verstecke angelegt, so dass wir dem Anlagenwärter immer entwischen konnten. Zu dieser Truppe gehörten u.a. Siegfried (Siecher) Kell und Karl (Kalle) Raddatz vom Wollweberberg und aus der Pyritzer Straße 3 oder 4 „Stoppelhopser", an den richtigen Namen erinnere ich mich leider nicht. Wir zogen sogar bis in den Stadtwald, um uns Ruten für Flitzbogen zu holen.

Ein ganz besonderes Fest gab es, wenn ein Junge, der bei Bäcker Kootz am Heilig-Geist-Platz wohnte, einige Brötchenmarken stibitzt hatte. Wir holten dann bei einem anderen Bäcker Brötchen dafür und bei Mielkes einen Becher Mostrich. Dann ging es in eine Bude in den Büschen der Anlagen und es gab das Festessen. Brötchen mit Mostrich.

Schön war auch der Winter. Die Rodelbahn im Goethepark war unser Feld. Zwei Schlitten wurden zum Bob zusammen gebunden. „Steile Wand fahren" erforderte eine besondere Technik. Wenn der Parkwärter Sand auf diese gestreut hatte, wurde er abgekehrt bis wir unser Gaudi fortführen konnten. Auf die vereisten Wiesen an der Zartziger Strasse kamen wir weniger, aber der Tennisplatz wurde im Winter in eine Eisbahn verwandelt und dort liefen die, die das Eintrittsgeld bezahlen konnten, nach Musik. Wir konnten nur sehnsüchtig zuschauen. Auch die Bauern kamen dann mit Schlitten in die Stadt. Sonntags sogar mit Kutschenschlitten und Schellengeläut. Unser Sport bestand darin, hinten auf die Kufen zu springen und mitzufahren. Nicht selten gab es auch etwas mit der Peitsche um die Ohren.

Eingeschult wurde ich in die Rosenbergschule und nach der vierten Klasse besuchte ich die Mittelschule. Klassenlehrer war Herr Grünke, Spitzname Bauer, weil er die Bauernsöhne bevorzugte. Rechnen lehrte Herr Rakow. Er hat uns das grosse 1 x 1 eingebläut. Mit dem Stock in der Hand stieg er auf die Bänke. Ein Tips mit dem Stock an die Schulter. „3 x 18"; wenn dann nicht sofort das Ergebnis kam, gab es einen Hieb über den Rücken und „10 mal aufschreiben". Wenn kein Schreibheft vorhanden war, das kam schon mal vor, musste auf Zeitungsränder geschrieben werden. Eine Besonderheit gab es in unserer Klasse: Jeder Stock hatte einen Namen und zwar den des Schülers, der ihn zum letzten Mal zu spüren bekam. Als nämlich der letzte Rohrstock zersplittert war, liess Herr Grünke von seinem Lieblingsschüler (Bauernsohn) Hannes Klebow Haselnussruten mitbringen, die dann alle mit einem Namen versehen im Pult lagen. Wenn Herr Grünke in einer anderen Klasse Unterricht hatte und jemand sollte gestraft werden, musste dieser bei uns das Folterwerkzeug holen. Er nannte den Namen des gewünschten Knüppels und die Klasse passte genau auf, dass der unterrichtende Lehrer auch den richtigen Stock heraus gab.

Es wurde aber nicht nur geprügelt! Wir haben tüchtig und gut gelernt für den späteren Beruf und das Leben!

Trotz des langen Schulausfalls durch Krieg und Flucht hatte ich keinerlei Rückstände bei der Weiterführung des Unterrichtes in Mitteldeutschland. An viele Namen meiner Mitschüler kann ich mich nicht erinnern bis auf: Aßmus - Zartziger Straße, Hennig, Harder (Fleischerei) - Jägerstrasse, Rolf Bergemann (Sattlerei) - Pyritzer Strasse 37, mit ihm war ich befreundet, Günter Erdmann - Jägerstrasse, wir machten oft gemeinsam Schularbeiten, Hans Molzahn, mein Banknachbar, er kam mit der Kleinbahn. Mit ihm habe ich oft das  Schulbrot getauscht. Er freute sich über meine Stullen vom Stadtbäcker und Wurst vom Fleischer aus der Stadt und mir schmeckte das selbstgebackene Brot mit hausgemachter Wurst besonders gut.

Wenn wir einige Groschen in der Tasche hatten, wurde zusammengelegt und es ging nach dem Unterricht an die Ihna-Brücke im Blücher-Park zum Bootsverleih zum Rudern.

Die Zusammenhänge mit der Geburt meiner Schwester haben sich eingeprägt. Da mein Vater im Krieg war, zeigte mir meine Mutter rechtzeitig, wo die Hebamme wohnt und den richtigen Klingelknopf, der zu drücken war. Eines Nachts weckte sie mich und ich machte mich auf den Weg. Als ich am Pyritzer Tor war, gab es Fliegeralarm - ich rannte. Plötzlich tauchte ein Blockwart auf und wollte mich in einen Luftschutzkeller stecken. Ich konnte ihn von der Dringlichkeit meiner Aufgabe überzeugen und durfte weiter rennen. Wie war ich froh, als die Hebamme mein Klingeln hörte und sie mit mir gemeinsam den Rückweg antrat. Ich schlief bei einer Nachbarin und am nächsten Morgen hatte ich eine kleine Schwester.

Die letzten Tage in Stargard und die Flucht im Februar 1945. Auf der Straße befand sich eine dicke, festgefahrene Schneedecke, am Strassenrand ein hoher Schneewall. Da hiess es: die Strassen müssen schneefrei sein, damit sich unsere Truppen besser bei der Verteidigung bewegen können. Autos und Fuhrwerke rückten an, um den Schnee abzufahren, den Frauen und Kinder mit Hacken und anderem Gerät von der festgefahrenen Strasse entfernt hatten. Und es gelang tatsächlich, die Pyritzer Strasse vom Schnee zu befreien. Durch die Stadt fuhren nicht enden wollende Flüchtlingstrecks. Wir Jungen wurden vom Jungvolk eingesetzt, um am Bahnhof an den Zügen voller Flüchtlinge heiße Getränke zu verteilen.

Den Bahnhofsdienst habe ich nicht oft versehen, das Elend hat mich sehr stark berührt und ich konnte mir nicht vorstellen, dass es uns auch einmal so ergehen sollte. Es waren sogar manchmal Menschen in Wagen untergebracht, die oben offen waren.

Meine Mutter schnürte ein großes Bündel mit Betten und Wäsche, das lag vorsorglich bereit im Schlafzimmer. Die Stadt war voller Soldaten und eines Tages hieß es: ab Morgen gibt es für die Zivilisten keine Lebensmittel mehr. In der darauf folgenden Nacht hatten wir Beschuss von russischen Panzern. Am nächsten Morgen luden wir das große Bündel auf unseren Handwagen, für jeden einen Rucksack, auch für meine kleine Schwester (sie war damals 1 /2 Jahre alt). Mutter meinte, wenn der Zug nicht über die Oder kommt, müssen wir in der Lage sein, unsere Sachen tragen zu können. Sie legte noch die Tischdecke auf, stellte Blumen auf den Tisch und schloss ab. Sie hoffte, dass wir bald wieder zurückkommen.

Die Tochter des Hauseigentümers, Fam. Nehring, schloss sich uns an. Wir zogen gemeinsam zum Güterbahnhof. Unter der Eisenbahnbrücke Heiliggeiststrasse bezog ein Panzer Stellung. Die Pflastersteine flogen durch die Luft, als er wendete. Soldaten mit Waffen und Gerät wurden aus einem Güterzug ausgeladen und wir belegten einen Waggon. Nun trafen auch noch meine Tante, Frau Bütow, aus der Gneisenaustraße und meine Großmutter, Frau Krause, aus der Hindenburgstrasse ein. Ein Soldat brachte uns von der Lok Kohlen für den Eisenofen, welcher in der Mitte des Waggons stand, der für die nächsten Tage unser zu Hause sein sollte. Ein anderer brachte eine Kiste Knäckebrot. Sie waren noch immer siegessicher. Ein leerer Lagerplatz stand voller brüllender Kühe mit vollen Eutern. Meine Mutter und meine Tante molken einige, so hatten wir Milch  für die Fahrt. Irgendwann setzte sich der Zug in Bewegung, zu unserer Erleichterung überquerte er eine Oderbrücke. Dann hielt der Zug einmal auf freier Strecke. Auf dem Gegengleis ein Güterzug voller Militär. Ein Soldat brachte uns seine Mandoline, weil er sie im Kampf nicht mehr brauchen könnte und doch nur wegwerfen müsste. Obwohl meine Mutter gut spielen konnte, hat sie es nie fertig gebracht, diese Mandoline zu spielen. Trotz mehrerer Umzüge ist sie noch heute in meinem Besitz. Der Zug endete auf einem kleinen Bahnhof in Berlin. Zum Glück hatten wir ein Ziel: Hecklingen bei Staßfurt in Sachsen Anhalt, dort wohnte meine Tante Grete, Schwester meiner Mutter. Jetzt fuhren wir mit der S-Bahn zu einem Fernbahnhof und von dort mit dem Personenzug nach Magdeburg. Beim Umsteigen holten wir uns zum Transport unserer Habe einen Plattenwagen von der Bahn. Vor Magdeburg hielt der Zug aber erst einmal in einem Wald, es war Fliegeralarm und alle verkrochen sich irgendwo im Wald zwischen den Bäumen. Zu diesem Zeitpunkt vernahm ich das erste Mal das Rauschen und Krachen von Bomben. Die große Frage war nun, wurde die Brücke getroffen? Endlich ertönte von der Lok her der erlösende Pfiff, es konnte weiter gehen. Ab Magdeburg fuhr ein Zug erst am nächsten Morgen. Im überfüllten Wartesaal fanden wir ein wenig Platz für den Berg Gepäck der ganzen Gruppe und verbrachten frierend die Nacht. Jetzt war es fast geschafft. Ohne weitere Zwischenfälle ging es am nächsten Tag nach Staßfurt und weiter nach Hecklingen.

Obwohl der Ort mit Evakuierten aus dem Rheinland überfüllt war, bekamen alle Familien ein Zimmer. Drei Tage dauerte unsere Flucht und sehr schnell zerschlug sich auch die große Hoffnung meiner Mutter, doch bald wieder nach Hause zurückkehren zu können gänzlich. Da wir zielgerichtet nach Hecklinnen geflohen waren, fand sich schließlich unsere ganze Familie ohne Komplikation wieder zusammen.

Mein Vater, der sich nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft ebenfalls nach Hecklingen durchschlug, erzählte mir viel später, dass er nach dem Bombenangriff noch einmal in Stargard war. Die gesamte Innenstadt fand er nur als Trümmer wieder. Das Hinterhaus der Pyritzer Strasse 5 durch eine Bombe völlig zerstört - das war meine Heimat.

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