Von einem, der am 4. März 1945 dabei war

Heinz-Jürgen Torff
Ehrenvorsitzender Heimatkreis Stargard
Stargarder Jahresblatt 1999/2000

Liebe Jahresblatt-Leser/innen,
der Bericht, den ich nachstehend veröffentliche, liegt mir schon über zwei Jahre im Grobschnitt vor. Er stammt von unserem Stargarder

Fritz Mattke, Freiherr-vom-Stein-Straße 11, 58769 Nachrodt-Wiblingwerde.

Er wohnte seinerzeit in der oberen Bergstraße. Fritz Mattke schildert, als Angehöriger eines Panzerjäger Kommando's, die letzten Tage bis zum Einmarsch der russischen Armee in seine und unsere Heimatstadt Stargard i.P., die letzten Tage zwischen ausgebombten und brennenden Häusern, zwischen der flüchtenden Stargarder Stadtbevölkerung und auch Stargardern, die ihre Stadt trotzdem nicht verlassen wollten, vornehmlich ältere Bürger. Er schildert aber auch die mütterliche Pflege und treue Fürsorge einer bekannten Stargarderin für Verwundete und erschöpfte Stargarder, junge und alte Verteidiger unserer Heimatstadt, vor der großen mächtigen russischen Kriegswalze, bis zur eigenen Selbstaufopferung. Der Berichtende verzichtet auf jede Form der Dramatisierung und schreibt:

Umgebung Stargard Ausschnitt

(Die Karte ist ein Ausschnitt einer Karte, die die Umgebung von Stargard darstellt und die im Din A4 Format vorliegt. Die Herkunft der Karte ist nicht zu ermitteln. Sämtliche im nachfolgenden Text aufgeführten Dörfer sind in der Karte enthalten.)

„....obwohl ich einiges absichtlich weggelassen habe, was die Stargarder heute noch erregen würde. Es gibt viele Stargarder, die von uns kämpfenden Jungs gar nichts gewusst haben. Zwei Bücher habe ich über das Ende unseres Stargard's gelesen - nur so ganz am Rande wurden wir erwähnt. Das Wiedersehen mit meiner Heimatstadt Stargard nach 51 Jahren führte mich wiederholt an jene Orte zurück, an denen wir damals „ganze Kerle" sein sollten, wir es wohl auch so wollten. Alles von damals, den ersten Märztagen 1945, war auf einmal wieder da, als wäre es gestern gewesen, auch die Erinnerung an meine hier gefallenen Kameraden.

An dieser Stelle gestatten sie mir in Ehrfurcht ein stilles Gedenken all denen, die voller Pflichtbewusstsein in fast auswegloser Lage, im Glauben, anderen Mitmenschen zu helfen, ihr Leben geopfert haben. Bei Kriegsbeginn 1939 waren sie ganze 10 Jahre alt, einige etwas älter. Noch nicht einmal sechs Jahre später folgten sie gehorsam und voller Idealismus einem Aufruf, ihre Heimat, Stargard und Pommern, zu verteidigen und vor allem zu schützen. Wir waren etwa 40 Stargarder Jungs, hervorgegangen aus dem Bann 9, unter der damaligen Bezeichnung „Panzerjagdkommando 9", wurde unsere kleine Einheit in einer Stargarder Schule, die uns vorerst noch als Unterkunft diente, aufgestellt. Die Front näherte sich stündlich. Trecks aus den umliegenden Dörfern fuhren durch ihre zerbombte alte Kreisstadt nach Westen, bald waren es auch die ersten Stargarder Bürger, die ihr Heil mit Koffern oder Leiterwagen in Richtung Bahnhof oder Stettiner Straße suchten, verfolgt vom Kanonendonner und der Ungewissheit, wohin.

Die ersten Tage verliefen ruhig, so dass wir flüchtenden Menschen helfen konnten, sich in Sicherheit zu bringen. Wenige Stunden vor unserem ersten Einsatz gegen 21.30 Uhr erschreckte uns ein Schuss aus einem Karabiner, der nicht gesichert war. Wir dachten alle, der Schuss ging in die Decke, aber es war ein schrecklicher Irrtum. Einen Kameraden, der sich bis zur Wachablösung niedergelegt hatte, traf die Kugel tödlich am Hals.

Wir, total verwirrt, brachten unseren toten Kameraden in ein großes Kellergewölbe in Nähe der Unterkunft. Hier waren schon viele Tote aufgereiht, Wie, wann und wo sie bestattet wurden, haben wir nie erfahren. Wir nahmen schweigend Abschied und eilten die vielen Stufen nach oben. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken, wir waren zu erregt - es wurde für uns eine kurze Nacht.

Um 1.00 Uhr gab's Alarm, in fünfzehn Minuten Abfahrt in einem abgedunkelten Bus in Richtung Klützow, Zuckerfabrik. Eine kleine Wehrmachtseinheit erwartete uns, Panzerfäuste wurden verteilt und erklärt, und in kleinen Trupps ging es in die stockdunkle Nacht hinaus. Unser Ziel sollte das Dorf Krüssow sein, südlich davon hatten sich sieben russische Panzer aus Richtung Pyritz kommend, im sumpfigen Gebiet festgefahren. Es war unser Glück. Völlig durchnässt erreichten wir die Ortschaft und buddelten uns ein. Gerade fertig, sahen wir den ersten Koloss, gefolgt von anderen sechs Ungetümen in Richtung unserer Buddellöcher, zu walzen. Die Geräusche höre ich heute noch manchmal im Schlaf. Auf einmal - ein Geschenk des Himmels - kam ein Kradmelder angebraust mit dem Befehl: „Runter - und volle Deckung. Ja, alles Gute kommt von oben, denn Flieger-Oberst Rudel setzte mit drei Maschinen dem Panzerspuk ein Ende. Sie flüchteten links und rechts heraus - zurück in's Sumpfgebiet wäre ohnehin ihr Ende gewesen.

Wir betraten später die Häuser in Krüssow - Tische waren noch gedeckt . Die schönen Kachelöfen konnten wir leider aus Sicherheitsgründen nicht anheizen, um unsere Uniformen zu trocknen. Im Schutze der Dunkelheit verließen wir Krüssow. An der Bahnstrecke zwischen Strebelow und Wittichow stießen wir auf ein deutsches Eisenbahngeschütz. Einige hundert Meter dahinter sicherte eine Kampfgruppe der Legion Wallonien. Aus Richtung Kollin-Blumberg wurde erneut ein russ. Vorstoß gemeldet. Das E-Geschütz hatte ganze Arbeit zu leisten. Wir buddelten uns links der Bahnstrecke Wittichow - Schneidersfelde wieder in den schlammigen Boden. In der Nacht versuchte ein russischer Spähtrupp, wieder mit Panzerunterstützung (wir hörten die Geräusche) aus Richtung Kremzow die deutschen Stellungen zu erkunden - ein kurzes heftiges Gefecht - sie zogen sich wieder zurück.

1. März 1945

Am 4. Einsatztag fuhren wir wieder in unsere Unterkunft zurück - einige von uns, auch ich, brauchten dringend ärztliche Hilfe. In Stargard nahmen jetzt die Sorgen vor der heranrückenden Front stündlich zu. Wo bekamen wir noch ärztliche Hilfe ? Aus der noch sich in der Stadt befindlichen Bevölkerungsgruppe hörten wir eine zarte freundliche Frauenstimme, die uns helfen wollte, denn sie hatte von dem Zustand unserer jungen Gruppe gehört. Unter schwierigsten Bedingungen schaffte diese Frau für uns Lebensmittel, Medikamente und Verbandsmaterial herbei. Wie und woher, weiß von uns niemand. Sie half einfach und machte nicht viel Worte. Sie wurde persönlich mehrmals aufgefordert, das brennende Stargard zu verlassen. Hierfür hatte sie kaum Gehör und lehnte mit den Worten ab: „Ich habe hier noch etwas zu tun".

In dieser Zeit ahnte von uns niemand, was sie - Frau des Stargarder Sparkassendirektor - bereits für sich wohl innerlich entschieden hatte. Sie versorgte uns wie eine Krankenschwester und Mutter zugleich. Ihr gilt heute noch - über 50 Jahre hinweg - unser Dank und Gedenken.

Unsere Einsatzorte hatten ständig gewechselt. Immer da, wo der Russe mit Panzern auftauchte, wurden wir hingefahren. Im Verhältnis zu unseren jugendlichen Kräften hatten wir ganz schön an Ausrüstung ständig zu tragen. Den Karabiner oder eine russ. Beute MP, dazu je zwei Panzerfäuste, die wir mit Trageriemen um den Hals trugen. Mit unserer Gesundheit stand es, ständig in den oft nassen Uniformen in der Kälte derzeit auch nicht zum Besten. Weiße Pelzjacken wurden für uns plötzlich zum verspäteten Weihnachtsgeschenk. Sie wärmten uns endlich einmal - waren aber für die russischen Tiefflieger ein gutes Ziel, und die griffen immer wieder an. Bei einem Meldegang mit zwei weiteren Kameraden nach Priemhausen und zurück wurden sie in den weißen Pelzjacken bei einem starken Luftangriff in der Jobststraße tödlich getroffen. Ich konnte mich gerade noch in einem Hausflur in Sicherheit bringen.

Nach dem Priemhausen-Einsatz wieder in Stargard, suchten wie unsere Einheit, die sich nach Schöneberg verlegt und jetzt durch rückflutende Truppenteile verstärkt hatte. Das war auch notwendig, denn der Russe griff aus Richtung Zachan mit Panzerspitzen wieder an. Zwischen Treptow, Pansin und Schöneberg waren wir zunächst mit der Kurland-Truppenverstärkung dem Druck gewachsen. Die Russen verloren viele Panzer bei ihren Vorstößen, aber sie schickten, zeitlich versetzt, immer wieder neue vor.

2. März 1945

Endlich hatten wir mal eine Kuh geschlachtet und gut zerlegt - gegessen hat sie aber der Russe, da wir oft nach einigen Stunden gezwungen waren, unsere Position zu wechseln. Unsere Verpflegung wurde knapp. Am frühen Freitag, 2. März 1945, zogen wir uns nach Stargard zurück. In Höhe der Mampe-Siedlung, Freienwalder Chaussee - Steinernes Kreuz, bezogen wir Stellung. Unsere Vorposten waren in Richtung Wulkow postiert. Ein 8,8 cm Flakgeschütz und ein Panzer sicherten unsere neue Kampflinie in Stargard.

3. März 1945

Am nächsten Tag, dem 3.3.1945, nahm der Russe Wulkow ein, die Tragödie unserer Heimatstadt Stargard war zum Greifen nahe. Die Stadt hinter uns brannte seit Tagen und die Russen flogen immer wieder ihre Einsätze mit Bomben und als Tiefflieger mit Jagd auf alles, was sich bewegte.

Trotz unserer an sich schlechten Lage wieder ein Hoffnungsschimmer: Kameraden hatten einen großen Verpflegungsbunker ausgemacht. Wir eilten sofort dorthin, um uns für die nächsten Kampftage einzudecken. aber 2 Doppelposten mit Maschinengewehr im Anschlag verwehrten uns den Eintritt, und der Russe war 5 km entfernt. Unser Leutnant und unser Feldwebel gaben den Posten 5 Minuten Zeit, ihre Position uns gegenüber zu bedenken. Alles ging hier gegen die kämpfende Truppe; aber es ging zum Glück ohne einen Schuss aus. Wir trauten unseren Augen nicht - Herz was verlangst du mehr - es war einfach alles da. Mit unverderblichen Artikeln steckten wir uns unsere Taschen voll. Einige Stunden später flog dieses gefüllte Depot durch Beschuss in die Luft. Soldaten und teils schon hungernde Zivilisten hätten sich hier verpflegen können. Das war eine menschenunwürdige Anordnung, die nicht geahndet wurde.

Noch schlimmer war das Schauspiel auf dem Adolf-Hitler-Platz. Ein Beispiel: Ein Angehöriger unserer Kurland-Einheit wollte in einem Dorf nahe Stargard für einige Stunden nach seiner Familie schauen. Als er zurückkam, lautete das Urteil: „Entfernung von der Truppe", Tod durch Strang. Bevor der Hocker unter ihm weggetreten wurde, rief er laut über den Platz: „Es lebe Deutschland". Die Russen standen vor den Toren Stargard's (2./3.3.1945), als selbst ein Parteigenosse - so die Pommersche Zeitung vom 3. März 45 - wegen Plünderns von Lebensmitteln dort gehängt wurde. Kurz bevor wir Stargard verlassen mussten, wollten wir noch unserer guten Frau, die sich in Not um uns mütterlich gekümmert hatte, zur Flucht überreden. Aber sie lebte nicht mehr, worüber wir sehr traurig waren.

Es begann der 3. März 1945, der Morgen des letzten Tages in Stargard. Überall Brände, Verwüstungen, Tote, vor allem Zivilisten. Viele Stargarder hatten oder wollten nicht ihre Stadt verlassen. Wegen der vielen Tiefflieger konnten auch wir nur sprungweise unsere alte Position erreichen. Aus Richtung Wulkow war ein sehr starkes Panzergeräusch vernehmbar. Auch in südwestlicher Richtung vor der Stadt wurde hart gekämpft. Nur noch ein etwa 3 km breiter Streifen war offen.

4. März 1945

Die Nacht zum 4. März 1945 war verhältnismäßig ruhig, aber durch ständige russische Leuchtspurgeschosse fast taghell. Als Vorposten auf der Straße nach Wulkow hörten wir in den frühen Morgenstunden eine Explosion hinter uns, die 8,8 cm - Kanone wurde von der Besatzung gesprengt.

Der Panzer rollte zu uns, und die Besatzung schrie uns an: „Lauft so schnell ihr könnt, der Russe ist durch." Der Wettlauf ums nackte Leben begann. Es wurde weder links noch rechts geschaut; denn die russischen Panzer waren jetzt zu hören und zu sehen. Mitten durch die Stadt ging unser Rückzug, denn am Stadtrand wären wir zu stark zu erkennen gewesen. An der Ecke Wall/Pelzerstraße nahm mich ein Nachrichtenwagen auf, und weiter ging's in Richtung Jobststraße. Dort stießen wir mit einem gepanzerten Wagen zusammen, der auch in die noch freie Zone wollte. Unsere Fahrt war zu Ende. Zu Fuß ging's weiter. Das Schlupfloch aus Stargard heraus war auf knapp 2 km Breite geschrumpft. Hier erlebten wir ein völliges Chaos. Wehrmachtsleute und Zivilisten versuchten, der Hölle zu entkommen. Fleischermeister und Viehhändler Franz Hohn, früher Pelzerstraße 14, hatte sich hinterm Heeresverpflegungslager Richtung Saarower Chaussee total festgefahren. Wir machten ihn wieder flott. Bis zur Autobahn vor Priemhausen, dann durch den alten Stargarder Forst, die Buchheide bis zur Oderbrücke flog eine Welle russischer Tiefflieger nach der anderen. Sie schossen ihre Magazine auf Zivilisten und rückflutende Militärteilverbände.

Fluchtwagen kippten um, Menschen und Tiere blieben verletzt liegen. Das hatte mit Krieg nichts mehr zu tun. Eine Flucht in den Wald war nicht möglich, was auch die Angreifer wussten. Die Trecks zogen in Richtung Autobahn - Oderbrücke, und wir bogen schon vorher über die Baumbrücke in Richtung Stettin ab. Weiter ging's nach Wyk auf Rügen und dann nach Eggesin. Hier endete auch mein Einsatz.

Anmerkung der Redaktion

Diese persönlichen Kriegsberichte unseres Stargarder Landsmannes Fritz Mattke über die letzten deutschen Tage in Stargard/ P. veröffentlicht die Redaktion des Stargarder Jahresblattes stellvertretend auch zur Erinnerung an viele ebenso tapfer kämpfende junge Stargarder (meist aus dem Bann 9) in und um Stargard, ebenso auch dem Stargarder Volkssturm und den Schülern, die in Stettin als Flakhelfer eingesetzt waren. Ein Vergleich mit heutigen Altersgruppen kann und darf nicht gezogen werden, da so etwas einmalig traurig war und hoffentlich auch in Deutschland nie mehr passieren darf. Das Torso auf der Autobahn Priemhausen - Oderbrücke kann ich persönlich bestätigen, denn ich bin selbst mit dem Treck von Priemhausen über die Oderbrücke geflüchtet und war mit Mutter und Bruder bei denen, die es geschafft haben.

Heinz-Jürgen Torff

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