Eckard Scheel

Eckard Scheel
Im Harras 11C
64293 Darmstadt

100 Jahre und mehr im Leben der Frieda Scheel
3.11.1899 - 22.4.2005

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Weit ab von den gewöhnlichen Reisewegen liegt das Dorf Brüsewitz. Nur selten verirrt sich einer der zünftigen Wanderer hierher, denn wer die Gegend vom Fenster des Eisenbahnwagens betrachtet, wird sie eintönig und reizlos finden. „Und doch - it is a schier Dörp, oas Brüsewitz", erzählt der Chronist Wilhelm Succow 1937, als er die Geschichte von Brüsewitz im Kreis Saatzig, 15 km ostwärts Stargard i. Pom. schreibt.

Brüsewitz

Stargard und Brüsewitz im Kreis Saatzig (rechts am Rand)

Trotz seines slawischen Namens ist Brüsewitz eine rein deutsche Siedlung. Als einer der ersten Siedler etwa um 1250 kam der Ritter Raven von Brüsewitz in die Gegend von Stargard und wurde Gründer des Dorfes. Er kam aus einer alten deutschen Adelsfamilie, die in Mecklenburg ansässig war und ihren Namen nach dem wendischen Dorf Brüsewitz bei Schwerin führte. In Brüsewitz Kreis Saatzig lebte 1899 der Bauer Karl Richard Theodor Ziegenhagen, der am 18. Dezember des Jahres 1856 in Treptow, Kreis Saatzig - einem Nachbardorf von Brüsewitz geboren war und seit Mai 1881 mit seiner Frau Anna, Auguste geb. Hinzmann, die am 19. März 1862 geboren war in ehelicher Gemeinschaft zusammen. Karl Ziegenhagen hatte zuvor seinen Wehrdienst bei der „Leibstandarte des Kaisers", dem Garderegiment Nr. 1 in Potsdam geleistet. Diese Zeit war für ihn ungeheuer bestimmend und prägte ihn zeitlebens.

Brüsewitz

Bis zum Jahr 1899 hatten Karl und Anna 4 Jungen und 3 Mädchen. Am 3. November 1899, einem Freitag meldete sich das drittletzte der Bagage. Nach Fritz, Gustav, Grete, Otto, Paul, Marta und Anna folgte Frieda. In der Geburtsurkunde Nr. 45 des Standesamtes Succow an der Ihna vom 7. November 1899 steht:

„Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, der Persönlichkeit nach bekannt, der Bauernhofbesitzer Karl Ziegenhagen, wohnhaft in Brüsewitz, evangelischer Religion, und zeigte an, dass von der Anna, Auguste Ziegenhagen, geborene Hinzmann, seiner Ehefrau evangelischer Religion, wohnhaft bei ihm in Brüsewitz in seiner Wohnung am dritten November des Jahres tausendachthundertneunzig und neun, am Nachmittag um neun Uhr ein Kind weiblichen Geschlechts geboren worden sei, welches die Vornamen Frieda Charlotte erhalten habe. Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben Karl Ziegenhagen. Der Standesbeamte Hartwig".

Wie bereits erwähnt wurde Klein-Frieda also an einem Freitag geboren. Dies war nach bäuerlicher Erfahrung immer ein guter Tag - es sei denn, dass dieser Freitag auf den 13. fiel. Jedenfalls um die Zahl der Kinder voll zu machen folgten noch Rudolf und Lene, die 1902 und 1904 auch jeweils an einem Freitag zur Welt kamen.

Scheel Kinder

Bleiben wir aber bei der Frieda. Gut eine Woche nach der Geburt wurde sie bereits getauft, nicht in Form einer Nottaufe - nein, Klein-Frieda war so kräftig, dass man befürchtete, sie nicht mehr später zur Kirche tragen zu können. Pastor Alexander Berendt, der seit 1897 nach Brüsewitz versetzt war, vollzog am 12. November 1899 die Taufe. Frieda mauserte sich zu einem lebhaften aber doch recht kräftigen Kind und wurde Vaters Liebling. Mit etwa 6 Jahren kam sie Ostern 1906 in die einklassige Brüsewitzer Dorfschule. Lehramtsinhaber war der am 2. April 1866 in Fürstensee im Kreis Pyritz geborene Theodor Mitzlaff. Seine Ausbildung hatte er auf dem Seminar in Pölitz erhalten. Er starb plötzlich an Herzschlag am 14. September 1929, nachdem er 43 1/2 Jahre als Lehrer und Erzieher in Brüsewitz gewirkt und dem Dorf ein ganz bestimmtes Gepräge gegeben hatte. „Es ist Geist von seinem Geist, der heute in Brüsewitz lebendig ist", schrieb Wilhelm Succow 1937 in seiner Chronik.

Theodor Mitzlaff brachte Frieda das Schreiben, Lesen und Rechnen bei. Kaum ein Gedicht wurde ausgelassen, das nicht von der ersten bis zur letzten Strophe auswendig gelernt wurde. Es wurde gesungen, Theater gespielt und Heimat und Welt auf der Landkarte erkundet. Ganz besonderen Wert legte Lehrer Mitzlaff auf Geschichte und dabei natürlich ganz besonders die Preußische. In all diesen Fächern glänzte Frieda und war meistens Jahrgangsbeste. Einmal im ersten oder zweiten Schuljahr hatte sie sich aber doch vergaloppiert. Mitzlaff wollte wissen, wie Frieda eine Vorrichtung aus Stöcken fabrizieret hatte. Sie holte zum Erklären tief Luft und antwortete dann: „Da hab ich mir Stöcker gesucht ..." Damit war das Eis auch gebrochen. Im Winter wurde natürlich Schlittschuh gelaufen und im Sommer Fahrrad gefahren. Zu der Zeit bereitete das doch noch etliche Probleme. Fahrräder mit Freilauf und Rücktrittbremse waren noch gar nicht erfunden. Folglich wurde erst ohne Freilauf gefahren und dann eines Tages auch mit Rücktrittbremse, dass die Röcke immer nur so flogen.

Im Sommer 1911 kam Kaiser Wilhelm II. mit Kaiserin und Familie nach Stargard i. Pom., der nächstgelegenen Stadt, zur Einweihung der Marienkirche. U.a. wurden die Schulen der Stadt und des Landkreises aufgeboten, um dem Kaiser zu huldigen. Diese erfolgte natürlich in überzeugender Weise ohne jeglichen Zwang, denn der Kaiser war in Deutschland beliebt. Jedenfalls kam hierzu Frieda mit der Brüsewitzer Schule per Eisenbahn nach Stargard. Noch hatte die Schule bis zur Aufstellung etwas Zeit. Lehrer Mitzlaff nutzte diese Zeit mit den Kindern, um im Kaffee Ortmann, gegenüber dem Bahnhof etwas zu trinken. Was folgt ist der obligatorische Marsch zur Toilette - aber O-Schreck, Plumsklos wie auf dem Lande sind hier tabu. Wie funktioniert das denn nun in der Stadt? Kann man da nicht reinfallen? Wohin spritzt das Wasser? Mutig machte Frieda ihre ersten Erfahrungen mit der großen Kloschüssel und dem Zug an der Kette des Wasserbehälters, wobei sie dann aber doch vorsichtshalber erst den Klodeckel zugemacht hat.

Artur Scheel Führerschein

Führerschein von Vater Artur Scheel vom 10. September 1926

Im Jahre 1912 erlebte Nordost-Deutschland eine Sonnenfinsternis, ähnlich der im Jahre 1999. Sonnenbrillen waren weitgehend unbekannt. Zerbrochene Glasscheiben wurden über den „blakenden" Petroleumlampen mit Ruß geschwärzt. Diese reichten völlig aus, um das Himmelsschauspiel zu bewundern. Das Ereignis fand unmittelbar im Anschluss an den Konfirmationsunterricht statt. Pastor Berendt lieh sich hierzu ausgerechnet Friedas geschwärzte Scheibe aus und betrachtete so ebenfalls die halb verdunkelte Sonne.

Bis zum Herbst 1913  erstreckte sich der Konfirmandenunterricht. Im Laufe dieses Jahres erkrankte Frieda schwer. Wochenlang wurde um ihr Leben gebangt, ohne die genaue Ursache der Krankheit zu kennen. Im Herbst 1913 war sie aber dann doch soweit hergestellt, dass Pastor Berendt sie einsegnen konnte, obwohl sie erst im November 14 Jahre alt wurde.

Die Schulzeit war beendet. Die Beschäftigung auf dem elterlichen Hof ging wie gewohnt weiter. Es wurde gestrickt, Strümpfe gestopft, Hemden geflickt und auf dem Hof geholfen. Im August 1914 brach dann der 1. Weltkrieg aus und alle gesunden und kräftigen jungen Männer rückten aus ins Feld, wie es so schön hieß. Trotz der zusätzlichen Arbeit wurde Frieda älter. Nun wurde an die Zukunft gedacht und die Aussteuer langsam aufgebaut. Als künftige tüchtige Hausfrau musste man auch hauswirtschaften, kochen und nähen können.

Mit 17 Jahren lernte sie zunächst in Stargard nähen. Sie wohnte bei ihrem Bruder Fritz in der Gneisenaustraße und marschierte alle Tage zu ihrer Meisterin. Als das geschafft war, ging es ans Kochen und Hauswirtschaften. Diese Ausbildung erhielt sie auf dem Gut Barskewitz des Barons „Gans, Edler Herr von und zu Putlitz“. Der Administrator Peters und seine Frau nahm sie 1920 unter ihre speziellen Fittiche. Von ihnen wurde sie in die Freuden und Tücken des Kochens und der Hauswirtschaft mit allen Raffinessen unterrichtet. Von der Tischdekoration über Tischdecken und Sitzordnung, von der Zubereitung von Speiseeis unter völlig anderen Verhältnissen als heute bis zur Wurst- und Schinkenherstellung mit allen Vorkommnissen beim Schlachten von Schweinen, Hammeln, Hühnern, Enten und Gänsen bis zur Einteilung und Ausgabe von Fleisch an die Saisonarbeiter, also die Schnitter, sowie dem Backen und Garnieren von Torten lernte sie alles. Ein handgeschriebenes Kochbuch bewahrte die Geheimnisse ihrer Kochkunst auf. Ihr Organisationstalent und die Fähigkeit alle erdenklichen Situationen im Haushalt zu meistern wurde in diesem Haushalt gefördert, so dass sie bedenkenlos nach einem Jahr jedem Haushalt vorstehen konnte.

Hinzu kamen Reisen in den Spreewald, wo ihre Schwester Grete eine alte Exzellenz betreute oder nach Mecklenburg, wo wiederum Schwester Grete einem vornehmen Haushalt als Wirtschafterin vorstand. In Greifswald gehörte ihrer Tante Martha - Schwester ihrer Mutter - die größte Bäckerei der Stadt. Wenn Tante Martha und besonders ihr Sohn Werner nicht in Brüsewitz zu Besuch weilten, fuhr Frieda nach Greifswald. Cousin Werner muss ja auch ein toller Hecht gewesen sein. So machte er beispielsweise am 9. November 1923 mit Adolf Hitler den Marsch zur Feldherrenhalle mit. Dabei wurde er verwundet und somit eines Tages Blutordensträger. Bei Kriegsende 1945 war er Leiter des Arbeitsamtes Stettin. Dort wohnten auch 3 Geschwister von Frieda, so dass immer ein Grund bestand, nach Stettin zu fahren. An der ostpreußischen Grenze stand Bruder Gustav einem Zollabschnitt vor. Wendollek hieß das Nest in der Johannisburger Heide. Trotz der Schwierigkeiten beim Reisen durch den .“Korridor" wurde auch er besucht.

In Stargard i. Pom. In der Jobststraße 57 lebte in der Zeit der Schmiedemeister Gustav Scheel mit seiner Frau Alwine, geb. Kasper. Ihr Sohn Artur, der am 24. April 1897 geboren war, hatte inzwischen auch seine Meisterprüfung als Schmiedemeister gemacht und arbeitete im elterlichen Betrieb mit. Am 23. November 1923 starb Alwine Scheel. Damit fehlten den beiden Männern die Haushälterin. Tante Pauline sprang ein und versorgte sie mehr schlecht als recht. Das musste also geändert werden. Gustav war 55 Jahre alt und Artur 26. Mindestens einer von beiden musste eine Frau ins Haus bringen. Das war leichter gesagt als getan. Diese Frau hatte zunächst mal einen Haushalt mit 2 Männern zu versorgen und meistens noch 2 fremde Gesellen oder Lehrlinge zu verköstigen. Dann musste das Vieh versorgt werden. Keine große Rinderherde oder Schweinerei aber immerhin ein Schwein, 2 Beamtenkühe, also Ziegen, einen Hund, 10 Hühner mit Hahn, der das Federvieh zu ermuntern hatte, 10 Enten oder Gänse und einen ganzen Schlag voller Tauben auf einem Grundstück von fast 2000 Quadratmetern. Der Garten mit Obst und Gemüse und Kartoffeln umfasste alleine nahezu 1500 Quadratmeter. Mit den Kunden musste Kontakt hergestellt werden, desgleichen mit den Familien der anderen Handwerksmeister und den Lieferanten und in kritischen Situationen musste auch mal in der Schmiede mit angefasst werden. Dann kamen gesellschaftliche Verpflichtungen dazu, und das in der Zeit, in der die Weimarer Republik nicht gerade glänzte. Linke Schlägerkolonnen fanden sich allwöchentlich irgendwo in der Stadt ein. Die Polizei war größtenteils machtlos. Der Mittelstand, wozu auch die Handwerksmeister und Bauern gehörten, waren dafür konservativ bis rechts eingestellt. Die in Aussicht genommene Frau musste auch diese Gesinnung verkörpern. Nun such mal so eine.

Im Hause der Scheels wohnte damals eine ehemalige Brüsewitzerin. Es war Hedwig Porsch, eine Tochter des Bauern Theel aus Brüsewitz. Beim Besuch einer Gemäldeausstellung in Stargard fiel ihr eine junge Brüsewitzerin besonders auf. Sie hatte bäuerlichen Verstand, ließ eine Veranlagung erwarten, wie gefordert, war die zweitjüngste Tochter des renommierten Brüsewitzer Bauern Karl Ziegenhagen und trug den Vornamen Frieda. Sie hatte eine brauchbare Aussteuer und war noch zu haben. Irgendwie wurden Artur und Frieda verkuppelt, und am 27. November 1924 fand die Hochzeit statt. Spätestens ab Weihnachten 1924 wehte jetzt ein anderer Wind in Stargard. Außer dem zweiten Frühstück wurden alle Mahlzeiten im Ess-Wohnzimmer eingenommen. Der Tisch wurde täglich mit einer sauberen Tischdecke versehen und das alles Umwerfende war das Essbesteck. Es wurde ohne große Umstände unwiderruflich eingeführt.

Im Jahre 1925 wurde Paul von Hindenburg, der Held von Tanneberg im 1. Weltkrieg, Reichspräsident. Ihm zu Ehren schuf man in Stargard die Hindenburgstraße. Ein Neubau war so kurz nach der Inflation nicht zu verwirklichen, weshalb man kurzerhand die Jobststraße von der Heiliggeistkirche bis zur Bahnhofstraße in Hindenburgstraße umbenannte. Ab Bahnhofstraße stadtauswärts hieß sie weiter Jobststraße. Dort änderte sich nur die Nummerierung. Das Haus Scheel mit der Hausnummer 57 trug fortan die Nummer 23.

Mit Paul von Hindenburg zog in Deutschland auch der Fortschritt ein. In Stargard wirkte sich das so aus, dass sich Artur Scheel und Frieda ein Motorrad kauften - eine NSU. Diese lief dann aber auch nur ab und zu und außerdem kündigte sich in der Jobststraße 23 Nachwuchs an. Am 1. Juni 1927 war es dann so weit. Der Stammhalter Eckard wurde geboren. Ein gutes Jahr später wurden dann auch schon Motorradausflüge zu dritt durchgeführt. Hierzu war ein größeres Motorrad erforderlich, zumal Klein-Eckard, damals Kuller genannt, allein vom Gewicht her ein Mordsbengel zu werden schien. Das neue Motorrad war eine 500-er„D".

Frieda Scheel Führerschein

Führerschein von Frieda Scheel vom 25. März 1930
einer der ersten für Frauen in Stargard

Das Jahr 1930 näherte sich. Mutter Frieda machte ihren Führerschein der Klasse 3. Das Motorrad wurde wieder verkauft und ein Auto angeschafft - ein Hannomag. Etwas Blech und ein wenig Draht, fertig ist der Hannomag. So oder ähnlich lautete einer der damaligen Werbesprüche. Ein Glück war dieses Auto vor allen Dingen für Lydia, die am 25. August 1930 geboren wurde, denn sonst hätte sie auch noch auf dem Motorrad mitfahren müssen.

Die Familie entwickelte sich prächtig. Für den Schäferhund Asko wurde extra ein Zwinger geschaffen mit dem Namen „Vom Marnetal". Schutzhund-, Polizeihund- Meldehundprüfungen usw. wurden trainiert und absolviert. Die Tauben (Schönheitsbrieftauben) wurden von einer Ausstellung zur anderen gesandt. Die Hühner bekamen täglich ihr Fressen, das Eierlegen derselben wurde peinlich überwacht und mittels Fallnester registriert und ein Hahn, der immer von einem Reichssieger odgl. abstammen musste, hielt die Hennen bei Laune.

Politisch war man deutsch-national eingestellt. Mutter Frieda war im Luisenbund etabliert, der Vater Artur im Stahlhelm. Zum Tag von Potsdam wurde gefahren und zum Reichstreffen des Stahlhelm in Hannover. Die Machtergreifung Hitlers ging nahezu spurlos vorüber. Man blieb weiter national eingestellt und ignorierte weitgehend das Sozialistische. Der Luisenbund und auch der Stahlhelm wurden dann aber aufgelöst.

Neben der seit 1930 bestehenden Garage wurden 1936 zwei weitere errichtet und vermietet. Im Jahre 1938 wurden dann nochmals 8 Garagen errichtet. Der Hannomag war 1935 verkauft und durch einen FIAT ersetzt worden. Sonntagsausflüge waren damit weiterhin die Regel. Fast alle Ausstellungen, die mit Tauben oder Hunden beschickt wurden, bekamen auch Besuch der Züchter. Wir waren stets dabei. Ob das Schiffshebewerk Niederfinow eingeweiht wurde oder der Rügendamm, Artur und Frieda Scheel und natürlich auch ich fuhren hin. Berlin war damals schon eine Reise wert und so wurden Tante Meta und Onkel Gustav, die vom Zoll an der ostpreußisch - russisch - polnischen Grenze mit Sohn Kurt nach Berlin versetzt worden waren, mindestens einmal jährlich besucht. In Berlin fanden damals auch die Automobilausstellungen unter dem Funkturm statt. Sie wurden natürlich auch besucht und der Zoo und die Avus und der Dachgarten von Karstadt und das KaDeWe und, und, und.

Dann kamen die Feste, die alle gefeiert wurden. Frieda hatte 9 Geschwister, die alle verheiratet waren. Die 10 Paare feierten jährlich zwanzigmal Geburtstag und nahezu zwanzigmal waren auch Frieda mit Familie dabei. Hinzu kamen die Geburtstage der Eltern und einzelner Nichten und Neffen sowie deren Konfirmationen. Besonders hoch ging es dabei am 3. November 1938 in Stargard her. Das Haus konnte die Gäste kaum fassen. Lange vor Mitternacht war das Klo restlos blockiert. Der drauf saß wollte nicht raus und die rein wollten, kamen nicht rein. Onkel Emil, das war Ilses, Ursels und Kurts Vater, war einfach auf dem Klo eingeschlafen und schnarchte und gurgelte dort zum Gotterbarmen. Nun - der Hof war ja groß genug und wurde fleißig gewässert.

Schlaf kann bei Frieda nicht der Auslöser gewesen sein, der dafür sorgte, dass neun Monate später das Nesthäkchen Dieter am 3. August 1939 geboren wurde. Wie Lydia und auch ich, bekam er täglich die Brust, bis am 25. August, Lydias 9. Geburtstag, bei aufkommender Kriegseuphorie kräftig gefeiert wurde und am nächsten Tag die Einberufung von Vater Artur erfolgte. Durch den Schreck war die Milch weg und Klein - Dieter bekam die Flasche. Sie hat ihm offensichtlich gut getan, denn er erfreut sich noch heute köstlicher Flüssigkeiten. Von Milch hat sich der Inhalt der Flaschen dabei in Badischen Wein gewandelt.

Jedenfalls standen wir am nächsten Tag, es war der 27. August 1939 kurz vor dem Beginn eines neuen Krieges und unsere Kunden vor dem verschlossenen Hoftor der Schmiede Scheel. Pferde beschlagen konnte unsere Mutter Frieda nicht aber Mähmaschinenmesser schleifen. Diese benötigten die Bauern dringend, denn die Ernte war noch nicht ganz eingefahren. Für das Schleifen von Mähmaschinenmessern hatten wir einen Halbautomaten, den Frieda bedienen konnte. Ein Lehrling war uns noch geblieben und beide halfen den Bauern mit besten Kräften. Vater Artur war nach kurzer Zeit auch wieder greifbar. Erstens war er in Stargard geblieben, um Eisenbahnbrücken zu bewachen mit dem neu gegründeten Bahnschutz, der späteren Bahnpolizei und zweitens reklamierten die Bauern so intensiv bei den Wehrmachtsbehörden, dass der Schmiedebetrieb bald wieder auf vollen Touren lief.

Zum Auto kam ein Anhänger, um Ware und Konterbande besser und schneller transportieren zu können. Das Autokennzeichen bekam einen roten Winkel, was hieß: „Räder müssen rollen für den Sieg“. Der aber war in weite Ferne gerückt. Aus dem anfänglichen lokalen Krieg war in kurzer Zeit der 2. Weltkrieg entstanden. Die meisten KFZ des Reiches wurden von der Wehrmacht eingezogen oder einfach stillgelegt.

Am 13. Januar 1945 eröffneten die Russen mit unheimlichen Material- und Menschenmassen die letzte Großoffensive gegen das Reich. Im Februar 1945 standen die Russen vor Stargard. Die Flucht und Vertreibung der Familie Scheel begann. Mutter Frieda mit Lydia und Dieter retteten sich zunächst nach Zingst ins Fischland Darß. Ende März ging es weiter nach Eschwege an der Werra, und dort wären sie noch heute, wenn sie außer Lydia nicht weiter gezogen wären. Jedenfalls haben sich alle Scheels nach dem Kriege in Eschwege, besser im Ortsteil Niederhone wieder gefunden. Artur Scheel ist dort am 14. April 1950 gestorben. Eckard und Lydia haben dort 1952 geheiratet und Dieter seine frühere Verlobte geehelicht. Zu der Zeit wohnte Eckard bereits seit 1955 in Darmstadt. Dort kaufte er 1970 ein Haus und nahm seine Mutter mit auf. Dort lebte sie über 33 Jahre.

Frieda Scheel 105 Jahre

Frieda Scheel 105. Geburtstag

Bis zum 101. Geburtstag war Frieda immer noch überraschend rüstig. Ab Mai 2001 ließen Körper und Geist erheblich nach. Hinzu kam, dass sie trotz zweier Augenoperationen fast blind geworden war und auch nicht mehr hören konnte. Das Gehen fiel ihr von Tag zu Tag schwerer, so dass wir auf Anraten unseres Hausarztes sie am 20. Mai 2003 in das Altenheim des Diakonischen Werkes in Darmstadt in der Rüdesheimer Straße in vollstationäre Pflege geben mussten. Dort hat sie dann ihren 104. und 105. Geburtstag verlebt. Fünf Monate und neunzehn Tage danach ist sie am 22. April 2005 im 106. Lebensjahr friedlich eingeschlafen.

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