Entstehung der heutigen Erdoberfläche um und in Stargard

Prof. Dr Ing. Alfred Schwichtenberg
1925-2012
Der Artikel ist dem Stargarder Jahresblatt 1994 entnommen.

1. Kaltzeiten des Pleistozäns oder Diluviums

Im Gegensatz zur Mittelgebirgslandschaft (Erzgebirge, Thüringer Wald, Harz, Rheinisches Schiefergebirge) hat das Norddeutsche Tiefland eine sehr junge Entstehungsgeschichte. Im Volksmund spricht man von der "Eiszeit", durch die die Erdoberfläche im Norddeutschen Tiefland weitgehend entstanden ist. In der Geologie wird dieser Zeitabschnitt der Erde als Pleistozän oder Diluvium (lat: diluvere - überschwemmen, hier durch Eis) bezeichnet. Es lassen sich vier Kaltzeiten (Elbe-, Elster-, Saale- und Weichsel-Kaltzeit) unterscheiden. Zwischen diesen Kaltzeiten hat es Warmzeiten (Cromer-, Holstein- und Eem-Warmzeit) gegeben. Die Wissenschaft kann dennoch bis heute keine eindeutige Aussage darüber machen, ob die gegenwärtige Warmzeit nach der Weichsel-Kaltzeit eine Fortsetzung des über Jahrtausende so stark schwankenden Klimas ist.

Flusssystem um Stargard

2. Urstromtal und Grundmoräne

Das Pommersche Stadium der Weichsel-Kaltzeit als letzter Eismassenvorstoß von Skandinavien umfasst etwa den Zeitabschnitt von 35.000 bis 20.000 Jahren vor der Gegenwart. Während jener Zeit hat ein Oder-Gletscher die Pommersche Bucht und das untere Odergebiet bedeckt. Er hat auch den Raum um Stargard überfahren. ( Karte 1). Besonders auffallend ist dabei eine Eismassenzunge gewesen, die sich über Stargard hinaus nach Osten vorgeschoben und eine tiefe Bodenrinne ausgeschabt hat. Ihr, Weg lässt sich heute noch von Pützerlin - Bruchhausen (10 km nordwestlich Stargard ) bis in den Raum südwestlich Reetz (35 km östlich Stargard) nachweisen. Diese ehemalige Schürfrinne ist die ein bis zwei Kilometer breite Talaue, in der seit Jahrtausenden die Ihna wegen des geringen Talgefälles mit vielen Windungen und Laufverzweigungen träge dahingeflossen ist. Die in den Kaltzeiten unter verschiedenen Bedingungen entstandenen breiten Talauen werden häufig als "Urstromtäler" bezeichnet.

Die mehrere hundert Meter hohe Eisdecke hat bei ihrem Vordringen von Skandinavien unterwegs erhebliche Bodenmassen vom Feinkorn (Tonerde) bis zum Findling eingefroren und mitgeschleppt. Beim Abschmelzen des Eises ist dieser Bodenschutt liegengeblieben. Er wird heute als Grundmoräne (franz: la moraine - Gesteinsschutt, den der Gletscher abgelagert hat) bezeichnet. (Karte 2). Beiderseits des Ihna-Urstromtales liegt die Oberfläche der Grundmoräne 10 bis 20 m über der Talaue.

Die gegenwärtigen Höhenunterschiede im Stadtkreis Stargard zwischen dem Ihna-Urstromtal und den angrenzenden Randflächen der Grundmoräne sind auch nach 20.000 Jahren noch beachtlich. Sie betragen an der westlichen Hangseite um die 10 m. Auf diesen Hangflächen liegen in Stargard die Schröderstraße, der Kalkenberg, die Johannesstraße, die Holzmarktstraße, die Pyritzer Straße und die Ihnastraße. Im Osten des Stargarder Stadtkreises beträgt der Aufstieg auf die Randhöhen der Grundmoräne rund 15 m. Vom "Steinernen Sühnekreuz" führen hier die Fernstraßen nach Pegelow-Dahlow (Freienwalde) und nach Buchholz (Massow) sowie der Kitzerower Feldweg mit ihren Steigungsstrecken auf die östliche Moränenlandschaft.

Erdoberfläche rund um Stargard

3. Faule Ihna und Krampehl

Eine Besonderheit der Ihna liegt in den nur 400 m entfernt liegenden Einmündungen ihrer beiden größten Nebenläufe Faule Ihna und Krampehl. Diese Zuflüsse zur Ihna erfolgen etwa 2,5 km oberhalb des mittelalterlichen Stadtkerns von Stargard und haben damit auch einen wesentlichen Anteil an der geschichtlichen Entstehung einer Siedlung, die sich später Stargard nennt. Der Name Faule Ihna weist auf die Trägheit ihres Fließens hin. Ihr Entwässerungsgebiet ist schmal und langgestreckt. Hinzu kommt, dass in ihrem Mittellauf im langjährigen Mittel nur 525 mm/Jahr Niederschlag fällt. Das Ergebnis ist, dass auch Hochwasser niedrig bleiben und nur langsam abfließen.

Der Krampehl zeigt im Vergleich zur Faulen Ihna ein fast entgegengesetztes Fließverhalten. Das Entwässerungsgebiet des Krampehls mit der Gestohlenen Ihna (Einmündung beim Schloss in Pansin in den Krampehl) bildet eine quadratische Fläche. Im Oberlauf beider Wasserläufe steigen die mittleren Niederschlagshöhen auf 600 mm/Jahr an (Niederschlagsmessstellen Voßberg und Butow). Daher muss besonders der Krampehl einen wesentlich größeren und schnelleren Abfluss haben, der sich besonders stark bei Hochwasser zeigt. (Karte1)

4. Bodenabtrag durch das Wasser

Wind, Wasser und Eis greifen ständig die Erdoberfläche an und schleppen besonders die feinen Bodenkörnungen fort. Dieser Vorgang wird in der Fachsprache als Bodenabtrag oder Erosion (lat: erodere - auswaschen, abschleifen, abnagen) bezeichnet. Das oberirdisch von den Landflächen abfließende Wasser schleppt körnige Bodenteilchen aus den verschieden bewachsenen Landschaftsbereichen mit (Flächenerosion). Seit der ackerbaulichen Nutzung vor rund 1000 Jahren hat sich die Menge der mitgeschleppten Bodenteile sogar erheblich vergrößert. Im Wasserlauf findet gleichzeitig ein noch stärkerer Tiefen- und Seitenabtrag (Tiefen- und Seitenerosion) statt.

Erdoberfläche rund um Stargard

5. Entstehen des Krampehltales

Die unterschiedlichen Abflussverhältnisse von Fauler Ihna und Krampehl zeigen sich auch bei der Bodenverlagerung und der Entstehung der Täler. Beim Übergang der Grundmoräne zum Ihna-Urstromtal im Gebiet von Zartzig und Schwendt ist das Oberflächengefälle nach dem Abschmelzen des Gletschereises am größten gewesen, so dass hier der Eingrabungsvorgang (Tiefenerosion) des Krampehls begonnen hat. Die Einschnittstiefe der Talsohle gegenüber der angrenzenden Landschaft erreicht jetzt bis zu 20 m. Auch die große Breite der Talsohle spricht für die erheblichen Bodenmengen der Grundmoräne, die das schnellfließende Wasser fortgeschleppt hat. Dieser Teil des Krampehltales heißt im Volksmund "Zartziger Kessel". Dieser Name ist sicher entstanden, weil das Krampehltal einen halbkreisförmigen Bogen macht und die Talflanken zum großen Teil steil abfallen. (Karte 3)

Die einsetzende rückschreitende Talvertiefung flussaufwärts hat sich bis in den Bereich Pansin ausgewirkt (Einmündung der Gestohlenen Ihna). Auf engstem Raum treten Höhenunterschiede von 10 bis 15 m auf. Zurückgeblieben sind im Bereich des vorgeschichtlichen Burgwalles zwischen Wulkow und Karolinenthal besonders im Flussbett die großen Findlinge der kristalinen Tiefengesteine (Granit, Semit, usw.), die das Eis aus Skandinavien mitgeschleppt und gerundet hat. Fast zeigt der Krampehl auf dieser Strecke das Aussehen eines Mittelgebirgsflusses.

6. Schwemmkegel im Urstromtal

Wegen der großen Bodenmassen, die das Wasser des Krampels und der Faulen Ihna fortgeschleppt haben, taucht zwangsläufig die Frage nach dem Verbleib dieser großen Bodenmengen auf. Die hier 2 km breite Talaue der Ihna mit wenig Gefälle führt zur Bodenablagerungen, die am Moränenrand im Mündungsbereich von Krampehl und Fauler Ihna begonnen hat. Der flache Schwemmkegel des Krampehls ist wegen des stärkeren Abflusses wesentlich größer gewesen und hat mehrere Kilometer weit ihnaabwärts gereicht. (Karte 2)

Da das Gefälle auf einem Kegelmantel (Oberfläche des aufgeschütteten Bodens) nach allen Richtungen gleich groß ist, konnte hier der Wasserabfluss häufig seinen Fließweg ändern. Das hat dazu geführt, dass insbesondere der Krampehl im Laufe der Jahrtausende sein Mündungsdelta in die Ihna kilometerweit verschieben konnte. Der Krampehl hat zeitweise erst unterhalb der heutigen Stadt Stargard die Ihna erreicht.

7. Reste der Schwemmkegel im Ihna-Urstromtal

Mit der Abflachung der Gefällstrecke im Unterlauf von Krampehl und Fauler Ihna hat der Bodenabtrag auf dieser Strecke nachgelassen. Danach hat der Abbau der geschütteten Schwemmkegel im Ihna-Urstromtal überwogen. Zwischen Stadtkern und den Einmündungen von Krampehl und Fauler Ihna tauchen heute noch Geländeerhöhungen auf. Sie sind unter den Namen Mexiko, Stuthof (Kotelmanns Garten), sowie Werder und Wiek bekannt. (Karte 2). Beiderseits dieser höher liegenden Talflächen befinden sich tiefer liegende Bereiche der Ihnaaue. Auf der westlichen Seite fließt heute die Ihna (Badeanstalten, Borkenhagener Wiese). Auf der östlichen Seite liegen die Bereiche Eschenweg, Zartziger Straße, Kuhbrinksdamm (Gänse-Wiese) Sie dehnen sich bis an den Talrand am Kleinen Krampehl aus.

Im mittelalterlichen Stadtkern von Stargard gehört zu diesen Erhöhungen der Ihnaaue der Bereich um die Straßen Großer und Kleiner Wall mit der höchsten Erhebung Weißkopf-Turm. Alle diese Erhöhungen sind Reste der ehemaligen Schwemmkegel von Krampehl und teilweise auch der Faulen Ihna.

8. Vorgeschichtlicher Übergang über das Urstromtal der Ihna

Feuchtgebiete und Wasserläufe sind besonders in vorgeschichtlicher Zeit Hindernisse für den wandernden oder Handel treibenden Menschen gewesen. Stets sind die Stellen in der Landschaft als Wanderungswege gesucht worden, die einen möglichst trittfesten Untergrund haben und keinen großen Umweg bedeuten. Die Notwendigkeit, das Ihna-Urstromtal überqueren zu müssen, hat auch schon in vorgeschichtlicher Zeit bestanden. Hierfür ist bald die Stelle ausfindig gemacht worden, an der Stargard entstanden ist.

Während auf weiten Strecken des Ihna-Urstromtales die Entfernung von Hangfuß zu Hangfuß der Grundmoräne rund 2 km beträgt, verringert sie sich zwischen Peter-Gröning-Platz und Steinernem Sühnekreuz auf rund 1,1 km. Dazwischen liegt die Aufhöhung als Rest des Scnwemmkegels im Bereich der Straßen Großer und Kleiner Wall mit 300 m Länge. Die tiefliegenden Feuchtflächen und die Übergänge über einzelne Abflussrinnen haben sich damals nur auf den schmalen westlichen Bereich zwischen Peter-Gröning­Platz und Wall-Aufhöhung und dem östlichen zwischen Walltor und dem Steinernen Sühnekreuz erstreckt. Die überschwemmbare Talaue hat sich damit auf rund 800 m verringert.

Dieser Übergang über das Urstromtal hat sicher erst nur zu einem Rastplatz geführt, weil Ihna und Krampehl nach Regen- und Schneeschmelze eine stärkere Wasserführung haben. Wann dann eine befestigte Siedlung oder Herberge gegen Überfälle, Hochwasser oder Witterungsunbillen an dieser Talenge entstanden ist, ist unbekannt. Schriftliche Unterlagen gibt es darüber nicht. Die erstmalige Erwähnung Stargard's stammt aus dem Jahre 1124 (Bischof Otto v.Bamoerg).

Erklärung

Ein Schwemmkegel ist ein Sedimentkörper, der dort entsteht, wo ein Fließgewässer abrupt an Gefälle verliert, typischerweise beim Austritt aus einem Hochgebiet in tieferliegendes, schwächer reliefiertes Gelände. Wegen der abrupten Abnahme des Gefälles erfolgt eine ebenso abrupte Abnahme der Fließgeschwindigkeit. Damit sinkt zugleich das Transportvermögen für die gröbsten Fraktionen des zu diesem Zeitpunkt vom Wasser mitgeführten Gesteinsmaterials. Somit bildet sich an entsprechenden Stellen ein kegelförmiger Sedimentkörper aus.

 

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