Stargarder Schüler als Luftwaffenhelfer

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1.Kriegseinsatz

1.1 Rechtliche Unsicherheiten

Bereits das Wehrgesetz vom 21. Mai 1935 bestimmte im § 1: „Im Kriege ist über die Wehrpflicht hinaus jeder deutsche Mann und jede deutsche Frau zur Dienstleistung für das deutsche Vaterland verpflichtet“. Dieses Gesetz und die Notdienstverordnung vom 15. Oktober 1938 schafften die rechtlichen Grundlagen für den Einsatz der Luftwaffenhelfer.

Verabschiedung der Lufzwaffenhelfer

Abschied der Oberrealschüler der Geburtsjahrgänge 1926/1927 am 15. Februar 1943 auf dem Stargarder Bahnhof.

Die 15- und 16-jährigen Jungen der Schulklasse OII und UII wurden als Luftwaffenhelfer (LWH) an den Flugzeugabwehrkanonen (Flak) in Stettin/Torney eingesetzt.

Die Frage, ob Luftwaffen- und Marinehelfer als Kombattanten im Sinne des Völkerrechts zu gelten haben, wurde in zahlreichen interministeriellen Diskussionen und Gutachten erörtert. Der Direktor des Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Prof. Dr. jur. Bruns, kam in seiner Stellungsnahme zu dem Ergebnis, dass bei der Luftwaffe eingesetzte Schüler nicht Soldaten im Sinne des deutschen Wehrrechts seien. Diese Bedenken fanden ihren Niederschlag, als gegen Ende des Krieges  viele Luftwaffen- und Marinehelfer bei der Annäherung des Feindes von verantwortlichen Einheitsführern durch entsprechende Uniformierung und Ausgabe von Soldbüchern zu Soldaten der deutschen Wehrmacht gemacht wurden.

Es war aber nicht nur diese völkerrechtliche Seite, die gegen einen Einsatz von Schülern sprach. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung stellte sich gegen dieses Vorhaben. Man argumentierte, dass durch die Einberufung von Schülern der höheren und mittleren Schulen mehrere Jahrgänge gut ausgebildeten Nachwuchses für die Bereiche Justiz, Schulwesen, Technik, Wirtschaft und Medizin im Nachkriegsdeutschland fehlen würden. Die ursprüngliche Planung für die Verwendung von Schülern bei der Flakwaffe (Flugzeugabwehrkanone) sah vor, dass der Unterricht vollständig ausfallen sollte. Doch Luftwaffe und Erziehungsministerium verständigten sich darauf, dass ein Minimum an Unterricht in den Stellungen stattfinden musste. Sogar die Parteikanzlei der NSDAP (Bormann) widersprach am 21. Dezember 1942 in einem Schreiben an den Oberbefehlshaber der Luftwaffe (Hermann Göring) mit einer ausführlichen Begründung dem Einsatz von Schülern bei der Luftwaffe.

Luftwaffenhelfer der Geburtsjahrgänge 1926/1927

LWH der Geburtsjahrgänge 1926/1927 an einem Sonntag im März 1943

hintere Reihe v.l.n.r.: Carl-Heinrich Schmidt Wolfgang Stoldt  
mittlere Reihe: Manfred Asmus Eberhard Splittgerber Wolf-Otto Schmidt
  Fritz Symnicht Hans-Joachim Schwartz Fritz Strübing
vordere Reihe: Rüdiger Erdmann H. J. Kaiser Werner Blumenthal
  Walter Krien Uffz. Hermann Mikus  

Schließlich wurden alle Bedenken vom Tisch gewischt, da der Kriegsverlauf sich immer katastrophaler für Deutschland entwickelte. Die Menschenverluste stiegen enorm an und der Ersatz aus den nachwachsenden Jahrgängen reichte nicht mehr aus. Daher sah die Planung vor, aus der sehr umfangreichen Flakverteidigung der Heimat frontverwendungsfähige Soldaten herauszuziehen und sie durch Schüler zu ersetzen. Für jeweils 80 Soldaten sollten 100 Luftwaffenhelfer zur Verfügung stehen. Nachdem diese Überlegungen bei der Luftwaffe zu einer festen Vorstellung geführt hatten, forderte auch der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine (Großadmiral Dönitz) für den Bereich der Luftverteidigung Küste ein Kontingent. So wurden für den entsprechenden Bereich Schüler als Marinehelfer eingesetzt. Die Vorbereitungen für die Aktion Luftwaffen- und Marinehelfer wurden entsprechend propagandistisch einheitlich gestaltet. Die Inhalte der Reden der Schulleiter vor den Eltern waren zentral geplant. Einerseits wurde vom Endsieg täglich berichtet, andererseits sollten Schüler an die Kanonen geschickt werden. Dieser Widerspruch musste den Eltern möglichst schonend als nicht bestehend erläutert werden.

Die Organisation selbst wurde bis in die Einzelheiten durch Erlasse und Verordnungen geregelt. So betrug die Barvergütung der Luftwaffenhelfer kalendertäglich 0,50 RM. Urlaub, Heilfürsorge, Sozialversicherung und Disziplinarordnung wurden festgelegt. Bei der Ausführungsbestimmung der Disziplinarordnung ist ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass diese „mit aller gebotenen Vorsicht anzuwenden sei“. Alkohol und Tabak waren verboten. Der militärpsychologische Dienst hatte eine ausführliche Stellungnahme erarbeitet. Jede Einheit musste einen Betreuer aus der Stamm-Mannschaft benennen, der die Aufsicht führte und für die Einhaltung der Verordnungen zu sorgen hatte.

1.2 Geburtsjahrgänge 1926/27

Wie erlebten die Jugendlichen der Oberrealschule zu Stargard in Pommern die damaligen Ereignisse? Am Vormittag des 15. Februar 1943 hatten sich die für den Einsatz als Luftwaffenhelfer bestimmten Jungen der Jahrgänge 1926 und 1927 auf dem Adolf-Hitler-Platz eingefunden. Vom Bahnhof Stargard ging die Fahrt dann zum Hauptbahnhof Stettin.

Behelfsunterkunft im Bauwagen

Nach dem Luftangriff in der Nacht vom 20. auf den 21. April 1943. Ein Bauwagen dient als Behelfsunterkunft nach der Zerstörung der Baracken.

   in der Tür stehend: Wolf-Otto Schmidt
   sitzend: Karl-Heinrich Erlenbach
   davor: Eberhard Splittgerber

Die schwere Flakbatterie - zunächst mit der Bezeichnung z.b.V 30, später 6/325 - war auf einer sandigen Geländeerhöhung in Stettin/Torney mit sechs Geschützen Kaliber 8,8 cm auf Kreuzlafette in Stellung gebracht. Die Geschütze trugen noch den Tarnanstrich für den Einsatz in Afrika. Am Fuße des Sandhügels befand sich die große Verwaltungsbaracke. Hier waren Schreibstube, Waffen- und Gerätebereich, Kleiderkammer sowie der Unterrichtsraum untergebracht. Sehr schnell wurden die Geschützstände mit Erdwällen gesichert, sowie Munitionsbunker gebaut und die Geschütze ortsfest auf Betonsockeln montiert. Die Ausbildung der Luftwaffenhelfer an den Geschützen dauerte 4 Wochen. Danach begann etwa ab Mitte März 1943 an 3 Vormittagen in der Woche der Schulunterricht. Die Nachmittage waren für die Luftwaffenhelfer dienstfrei. Diese Zeit blieb den Schularbeiten vorbehalten. Der Schulunterricht wurde von den Oberstudienräten Erdmann und Tschierschke erteilt. Da die Lehrer jeden Tag von Stargard anreisen mussten, bedeutete dies einen erheblichen Zeitaufwand für sie.

Die Batterie war organisatorisch in die Bereiche Geschützstaffel, Messstaffel und Verwaltung eingeteilt. Batterieführer war anfangs Leutnant Beilfuß, später übernahm Oberleutnant Günther das Kommando. Weitere Offiziere waren Leutnant Wallentowitz, der nach seiner Versetzung an die italienische Front dort gefallen ist. An seine Stelle kam Leutnant Scheib zur Einheit. Der Schreibstube stand Hauptwachtmeister Harmel vor, ein gefürchteter „Spieß“ mit dem obligatorischen Notizbuch zwischen den Knopflöchern seiner Uniformjacke. Beim morgendlichen Appell bemerkte er gerne bei der Rückgabe nicht genehmigter Urlaubsanträge: „War ein Windei“.

Die Luftwaffenhelfer waren auf die Bereiche Messstaffel und Geschützstaffel aufgeteilt. Die Messstaffel hatte die Aufgabe die Schusswerte zu ermitteln. Also Entfernung, Seite und Höhe des Zieles. Ein optisches Entfernungsmessgerät ermittelte die Daten. Diese wurden anfangs in ein „Kommandohilfsgerät“ von Hand eingegeben. Von dort wurden die Werte elektromechanisch an ein Zeigersystem der Geschütze übermittelt. Mittels einer Kurbel, bedient durch Luftwaffenhelfer, erfolgte nun die Ausrichtung der Geschütze. Nur der Ladekanonier war ein Soldat, denn diese Tätigkeit erforderte erhebliche Kraft. Die Granate wog etwa 30 Kilo und musste mit Schwung in das im Winkel von etwa 45 Grad stehende Rohr geschoben werden. Im Laufe des Jahres 1943 wurde das Kommandohilfsgerät durch eine Weiterentwicklung, das Kommandogerät 40, ersetzt.

Aus heutiger Sicht sicherlich sehr umständlich, jedoch durch das tägliche Batterieexerzieren - wurde eine entsprechende Präzision erreicht. Neben dem Feuerleitgerät zur optischen Erfassung des Zieles war bei Ausfall durch Sichtbehinderung - Nebel, Wolken, Dunkelheit - das Funkmessgerät, ein Vorläufer des Radars, im Einsatz. Der Abwurf von Stanniolstreifen durch die feindlichen Flugzeuge konnte die Funktion dieses Gerätes empfindlich stören oder vollkommen ausschalten Die schweren Flakbatterien konnten dann nur noch in vorbestimmte Sektoren Sperrfeuer schießen. Dies bedeutete einen sehr großen Munitionsaufwand mit wenig Erfolg.

In der Nacht von 20. auf den 21. April 1943 erfolgte der erste große Luftangriff auf die pommersche Landeshauptstadt Stettin. Hierbei wurden durch Abwurf der Stanniolstreifen die Funkmessgeräte völlig ausgeschaltet. Der Batteriebereich wurde mehrfach getroffen und die Unterkunftsbaracken brannten ab. Für die Aufsicht und Betreuung der Luftwaffenhelfer war von der Batterie der Unteroffizier (später Wachtmeister) Herrmann Mikus befohlen worden. Diese Verbindung wurde nach Kriegsende von einigen Ehemaligen wieder aufgenommen. So war Monsignore Mikus bei den zahlreichen Klassentreffen ein gern gesehener Gast.

Im Oktober 1943 wurden die Luftwaffenhelfer zur schweren Flakbatterie 1/616 im Stadtteil Stettin/Zabelsdorf versetzt. Diese Einheit bestand aus vier Geschützen mit dem Kaliber 10,5 cm. Batteriechef war Oberleutnant Jacobs. Im Januar 1944 wurde der Jahrgang 1926 entlassen. Danach erfolgte die Einberufung zum RAD (Reichsarbeitsdienst) und später zur Wehrmacht.

1.3 Kriegsverluste

Im Verlauf der Kriegsjahre 1943/44 wurden zum Dienst in den Nachrichtenzentralen weibliche Jahrgänge und hier besonders Arbeitsdienstmaiden als Nachrichtenhelferinnen verpflichtet, deren Schicksal beim Einmarsch der Sowjet-Armee schreckliche Formen annahm. Auch denke man an die Versenkung der Gustloff vor der pommerschen Küste, wo ebenfalls viele Nachrichtenhelferinnen ihr Leben verloren. Über die Gesamtverluste der Luftwaffen- und Marinehelfer gibt es keine zuverlässigen Aufzeichnungen. Es kann aber mit Sicherheit gesagt werden, dass bis Ende 1944 der prozentuale Anteil der Verluste wie bei der durch die Terrorangriffe dezimierten Zivilbevölkerung lag. Die Verluste stiegen allerdings stark an, als zunehmend Einsätze im Erdkampf an der Oderfront und im Raum Berlin erfolgten.

Carl Albert Boetzel

(1) Quellennachweis: Dr. H. D. Nikolaisen „Der Einsatz der Luftwaffen – und Marinehelfer im 2. Weltkrieg“ sowie „Die Flakhelfer“, Verlag Ullstein, Berlin 1981

(2) Aufzeichnungen des Luftwaffenhelfers Günter Nehring, (EJ 1937) Lüneburg, Archiv Lufteinsatz Stettin


2. Feuertaufe in Stettin

Es gibt im Leben immer wieder Ereignisse, die man nie mehr vergessen kann. Ein Erlebnis dieser Art hatten wir - die Luftwaffenhelfer der Jahrgänge 1926/27 unserer Schule - in der Nacht vom 20. zum 21. April 1943 in der Flakstellung Stettin/Torney (8,8 cm Batterie z.b.V. 30). Alliierte Bomberverbände der Royal Airforce griffen das Hydrierwerk Pölitz und die Stadt Stettin einschließlich der Hafenanlagen an. Die Vorhuten der Bomber, die so genannten Pfadfinder, hatten als Markierungszeichen Tannenbäume abgesetzt. Der Himmel über uns war hell erleuchtet, die nachfolgende Bomberflotte hatte somit ihre Ziele klar vor Augen.

Die Geschützbedienung der 8,8 cm Kanone „Friedrich“ bestand aus Flaksoldaten, den Luftwaffenhelfern Hans von Hardenberg, einem weiteren Kameraden und mir, sowie russischen Kriegsgefangenen. Einer von diesen war Lehrer, und wir konnten uns während des täglichen Geschütz-Exerzierens in Deutsch unterhalten. Sein Versuch, mich in die russische Umgangssprache einzuweisen, blieb erfolglos, da ich innerhalb der Batterie versetzt wurde. Geschützführer war Uffz. Schnitzler. Jeder von uns erfüllte in dieser Nacht seine Aufgaben, so wie wir es in der Grundwaffenausbildung gelernt hatten.

Während des Feuerkampfes erschallte plötzlich das Kommando „Volle Deckung“. Augenblicklich ging die ganze Mannschaft zu Boden, ohne Rücksicht auf Dienstgrad oder Nationalität. Eine ohrenbetäubende Detonation erfüllte zusätzlich zum allgemeinen Lärm die Luft. Was war geschehen? Unmittelbar neben unserem Geschützstand hatte eine Sprengbombe mittleren Kalibers eingeschlagen. Die Erde unter uns bebte. Wir blieben unverletzt, der Erdwall rund um das Geschütz hatte die Splitter abgefangen. Zurück blieb ein Granattrichter von drei bis vier Metern Durchmesser. Leider mussten wir jedoch den Tod von zwei Flaksoldaten beklagen, die sich auf dem hölzernen Hochstand befanden, der in unserer unmittelbaren Nähe stand. Diese beiden Soldaten gehörten einer Scheinwerfer-Batterie an und hatten die Aufgabe den Scheinwerfereinsatz im Bereich Stettin/Torney zu koordinieren. Der Hochstand war förmlich durchsiebt und durch die Druckwelle abgeknickt. Die schwer verletzten Soldaten konnten zunächst unter schwierigen Umständen geborgen werden, starben aber auf dem Transport zum Lazarett.

Während einer Feuerpause erschien der schießende Offizier, Leutnant Walentowitz, lobte unsere Leistung, sprach uns Mut zu und suchte die Bedienung des nächsten Geschützes auf. Einen besonderen Eindruck machte auf mich, dass er als Kopfbedeckung nur ein „Schiffchen“ trug und den Stahlhelm am Kinnriemen in der Hand hielt. Sicherlich eine Leichtfertigkeit, die für mich aber sehr bemerkenswert war. Leutnant Walentowitz war ein menschlich und fachlich anerkannter Offizier, der später in Italien, vermutlich bei Nettuno, als Batteriechef gefallen ist. Ein Mensch, den ich bis heute in Erinnerung behalten habe.

Der Morgen des 21. April 1943 bot ein Bild der Zerstörung. Im Batteriegelände abgebrannte oder zusammengebrochene Baracken, beschädigte Kabelgräben und elektrische Leitungen, aufgeplatzte Phosphorbomben-Behälter sowie ausgebrannte Stabbrandbomben. Der Schulunterricht musste ausfallen und wurde später als Übergangslösung im Freien abgehalten. Später gab es von der vorgesetzten Dienststelle Anerkennung und Auszeichnungen. Hans von Hardenberg erhielt das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse für hervorragenden Einsatz während des Luftangriffes. Wir hatten im Ernstfall unsere Bewährungsprobe als Luftwaffenhelfer bestanden und die von uns erwartete Pflicht erfüllt.

Hans Jürgen Voeltz

Weitere Bilder finden Sie unter Luftwaffenhelfer Bilder

siehe auch:

Hans-Jürgen Neitzel im Stargarder Jahresblatt 2002, S. 96 "Einsatz von Schülern und Lehrlingen als Luftwaffenhelfer in Stettin, Pölitz und Stargard i. Pom. 1943-45"

Wolfgang Geisler im Stargarder Jahresblatt 2003, S. 26 "Stargarder Schüler als Luftwaffenhelfer in Stettin"

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