Marienkirche

III. Die Erneuerung der Marienkirche in den Jahren 1905-1911

Superintendant Heinrich Brück, Pastor primarius von 1900-??? in der Marienkirche
Stargarder Jahresblatt 1994

Am Ende des 19. Jahrhunderts befand sich die Kirche wieder in einem Zustande, welcher mit dem am Anfang desselben viel Ähnlichkeit hatte. Dach, Fenster, Fußboden waren in jammervoller Verfassung. Das äußere Mauerwerk zerbröckelte. Herabfallende Steine gefährdeten das Leben der Vorübergehenden. Einer Frau wurde durch einen herabfallenden Stein eine Schulter zerschmettert. Eine umfassende Erneuerung erwies sich als unbedingt notwendig. Da war es mit einigen für die Kirche begeisterten Herren, ich nenne die Herren Stadträte Bumcke und Sonnemann, vor allein Herr Pastor Redlin von der hiesigen Johanniskirche, damals Archidiakonus an St. Marien, der in Wort und Schrift immer wieder für die Wiederherstellung der Kirche eintrat, und durch dessen Eifer und Begeisterung für die Sache hauptsächlich der Marienkirchbauverein ins Leben gerufen wurde. Er wurde im Jahre 1892, in dem das sechshundertjährige Jubiläum der Kirche gefeiert wurde, gegründet. Sein Zweck war die Beschaffung der Mittel zur stilgerechten und würdigen Wiederherstellung der Marienkirche. Auf sein Betreiben bzw. der darin wirkenden Herren, wurde im Jahre 1896 ein Wiederherstellungsplan nebst Kostenanschlag aufgestellt, der aber die Genehmigung der maßgebenden Behörden nicht fand, hauptsächlich aus dem Grunde, weil er den Grundsätzen der Denkmalpflege nicht entsprach. Nun erhielt der Assistent am hiesigen städtischen Bauamt, Deneke, den Auftrag, Kostenanschlag und Zeichnungen einzureichen.

Herr Deneke, der durch mehrjährige Beschäftigung auf der Marienburg ein besonderes Verständnis für gotische Backsteinbauten gewonnen hatte, und der vom Anfang seines Aufenthaltes in Stargard an privatim die Marienkirche studiert, auch schon einige Vorarbeiten gemacht hatte, legte 1904 den geforderten Kostenanschlag nebst den Zeichnungen vor. Ihre Ausführung wurde genehmigt. Schon 1901 waren das Haupt- und Südportal nach seinen Plänen hergestellt worden, und dabei zeigte sich, dass er der rechte Mann für die Herstellung der Kirche war. Der Kostenanschlag belief sich auf 221.600 Mark. Davon wurden aus staatlichen Mitteln 60 000 Mark zur Verfügung gestellt, von der Provinz wurden 30.000 Mark bewilligt. Den größten Teil der noch fehlenden Summe brachte die Gemeinde durch eine Anleihe bei der städtischen Sparkasse auf, zu deren Verzinsung und Tilgung die städtischen Behörden jährlich 2000 Mark, der St. Marien große Kasten 500 und der St. Marien-Armen-Kasten 400 Mark beisteuerten. Als Gegenleistung erhielt die Stadt den alten Kirchhof, wofür sie noch der Heilig-Geist-Gemeinde 3 Zimmer in deren Küsterhaus und der Johannisgemeinde einen Bauplatz für die Erlöserkirche überließ. Wie  es aber bei derartigen Bauanschlägen in den meisten Fällen zu geschehen pflegt, dass sie nämlich bei der Ausführung des Baues überschritten werden, weil so manches sich zeigt, was vorher nicht gesehen worden war, so war es auch hier. Die Kosten stiegen auf 319.000 Mark. In dieser Summe war aber nicht einbegriffen die Herstellung der Heizanlage, der Beleuchtung der Orgel u. s. w. Die Kosten hierfür übernahm die Gemeinde noch besonders. Infolge der Erhöhung der Kosten wurde auch die staatliche Beihilfe um 30.000, die der Provinz um 10.000 Mark erhöht. Der evangelische Oberkirchenrat spendete 15.000, der Marienkirchbauverein 7.000 Mark. Für den fehlenden Rest trat wiederum die Gemeinde ein. Die innere Ausschmückung der Kirche blieb der Opferwilligkeit vorbehalten. Und diese regte sich in hocherfreulicher Weise. Selbst aus Südafrika kam eine reiche Spende. Rührend war es, dass eine arme Hospitalitin von ihren mühsam erworbenen Groschen nach und nach 9 Mark für die Kirche brachte. Selbst ein katholisches Dienstmädchen steuerte 3 Mark bei

Marienkirche 1908

So ging man mit frohem Mut im Herbst 1905 an die Arbeit. In dem von dem Architekten Deneke aufgestellten Arbeitsplan war, um die Kosten für die Berüstung zu ermäßigen, ein Vorgehen in einzelnen Abschnitten vorgesehen. In drei Jahren sollten die Arbeiten vollendet sein, es wurden sechs. Man begann mit dem Innern des Langhauses. Um den Gottesdienst weiter in der Kirche abhalten zu können, wurde der Chorraum für denselben hergerichtet. Zu diesem Zwecke wurde er gegen das Langhaus durch Leinenstoff abgeschlossen und mit Gestühl, Kanzel und Harmonium versehen. Ein Jahr konnte hier noch Gottesdienst gehalten werden, dann wurde er mit freundlicher Genehmigung der Heilig-Geist-Gemeinde in deren Kirche verlegt. Für die Militärgottesdienste war uns die Johanniskirche zur Verfügung gestellt worden. In beiden Kirchen fanden auch die Trauungen statt, während für die Kindergottesdienste und die Taufen das Vereinshaus benutzt wurde. - Zunächst wurde nun der westliche Teil des Kircheninnern berüstet. Es war ein wahrer Wald von Gerüststangen, der sich bis zum Gewölbe emportürmte. Die Berüstung führte die Firma Schönberg & Comp. aus, der auch nachher alle Maurerarbeiten übertragen wurden, und die sie zur vollsten Zufriedenheit ausgeführt hat. Nach der Berüstung ging man an das Abklopfen der aus den Jahren 1819-1824 herrührenden dicken Putzschicht und das Beseitigen der Tünche. Dabei stellte sich heraus, dass die Barockbemalung am Gewölbe des Mittelschiffes, die aus der Erneuerung der Kirche nach dem dreißigjährigen Kriege stammte, vollkommen erhalten war. In den übrigen Gewölben und an den Arkadenbogen wurden Spuren einer sehr kräftigen Farbengebung in Grün, Rot und Schwarz-Grau gefunden. Auch Spuren  einer Quaderung in roten Doppelstrichen waren zu bemerken. An dem Bogen zwischen den beiden Türmen und dem über dem kleinen Altar traten gut erhaltene mittelalterliche Ornamente zu Tage. Die westliche der Südkapellen war mit reicher, figürlicher Malerei, musizierende Engel darstellend, geschmückt.

Was das Mauerwerk anlangt, so waren die Fensterpfosten in einem solchen Zustand, dass diese sämtlich neu ausgeführt werden mussten. Auch die Gewölbe bedurften vielfach einer gründlichen Ausbesserung. Nachdem so der Befund festgestellt worden war, ging es an die Wiederherstellung und zwar erfolgte sie in Bezug auf das Mauerwerk in einem dem alten gleichartigen Material und in genauer Dachbildung der alten Formen unter sorgfältiger Anlehnung an den Befund. Die Lieferung der Steine wurde der bekannten, und wie sich zeigte, auch sehr leistungsfähigen Ziegelei Matthes & Sohn in Rathenow übertragen. Es sei bemerkt, dass der ganze Ausbau der Kirche 650 verschiedene Sorten Formsteine erforderte. Während nun über die Erneuerung des Mauerwerks bei den maßgebenden Behörden Übereinstimmig herrschte, gingen die Ansichten über die farbige Gestaltung des Innern weit auseinander. Zwar wurde die Herstellung der alten Barockmalerei am Gewölbe des Mittelschiffs von beiden Parteien gut geheißen, dagegen war keine Einigung in bezug auf die weitere Ausgestaltung zu  erzielen. Die Einen forderten mit aller Entschiedenheit die Ausbildung der gotischen Teile z. B. der Pfeiler, der Arkadenbogen, der Fensterpfosten im Rohbau, die andern ebenso entschieden die Bemalung auf Grund der farbigen Befunde. Da eine Einigung zwischen diesen beiden verschiedenen Ansichten nicht zu erreichen war, so wurde die Meinung des Gemeinde-Kirchen­Rats eingeholt, und als dieser sich auf Grund des Gutachtens des leitenden Architekten für die Bemalung entschied, wurde von den zuständigen Ministerien diese auch für das Innere angeordnet. Auf Vorschlag des Wirklichen Geheimen Oberbaurats Haßfeld wurde der Maler Fey aus Berlin mit der Bemalung beauftragt. Mit dem Ende des Jahres 1907 waren die Arbeiten im Innern vollendet.

Marienkirche Gesamtansicht

Nun ging man an das Äußere des westlichen Teiles. Hierbei nahm der nördliche Turm am meisten Zeit und Arbeit in Anspruch. Selbstverständlich wurde auch hier genau nach den Befunden gearbeitet. Das seit 1824 zugemauerte Portal auf der Nordseite des Turmes wurde wieder geöffnet. Den daran befindlichen Fries, dessen Darstellungen auf der Westseite sehr verstümmelt und infolgedessen nicht mehr zu entziffern sind, ließ man in seinem unfertigen Zustande. Dasselbe geschah mit der auf der Westseite befindlichen Nische, der sogenannten Annennische. Schwierig war die Herstellung der um das Turmachteck herumlaufenden Galerie. Genaue Untersuchungen ergaben, dass die aus dreieckig vorspringenden Pfeilern mit dazwischen liegenden Öffnungen gebildet war. Da der ungehindert von der Galerie herabfließende Regen sich für die Galerie als äußerst schädlich erwies, so hatte man sie mit einem an das Achteck angelehnten Dache versehen. Dann hatte man die Öffnung zwischen den Pfeilern zugemauert und so eine Wächterstube für den städtischen Turmwächter hergestellt. Die Bauleitung wollte nun die Pfeiler nach Art der vor den vier Ecktürmen gestellten Pfeilerchen ausgestalten, das wurde aber nicht genehmigt. So legte man, um das Achteck höher heraustreten zu lassen, das Dach möglichst flach, führte die Pfeiler der Galerie nur bis zur Höhe des Daches auf und deckte sie mit einfachen, glasierten Ziegeln ab. Die ursprünglichen, zwischen den Pfeilern befindlichen Öffnungen wurden wiederhergestellt. - Am Mittelbau wurde das gewaltige Fenster wieder geöffnet. An dem Giebel, wie auch an dem des Südturmes wurden die aus der Barockzeit stammenden Fialen erneuert. Ebenso wurde die Bemalung der unter den Dächern befindlichen Friese, von der deutliche Spuren vorhanden waren, wiederhergestellt. Einer vollständigen Erneuerung bedurfte auch der gewaltige, 650 Zentner schwere, steinerne Dachreiter, einer der schönsten seiner Art. Mit seinen vielen in der Sonne glänzenden Glasuren bietet er einen prächtigen Anblick. Auch die auf den beiden Seiten des sog. Chorgiebels befindlichen Türmchen, die man in den Jahren 1819-24 abgetragen hatte, erstanden wieder in ihrer alten Gestalt. Hand in Hand mit diesen Herstellungsarbeiten ging der Ausbau der Heizanlage.

Nach Vollendung der Arbeiten am Langhause wurde das Innere des Chors in Angriff genommen. Hier trat bei dem Abklopfen des Putzes im Gewölbe des Mittelschiffes eine noch reichere Barockmalerei zu Tage als im Langhause. Ein auf der nördlichen Seite befindlicher fingerbreiter Riss, der von einem Arkadenbogen ausgehend, immer weiter klaffend, sich bis in ein Fenster des Hochschiffes hinaufzog, und der zuerst für die Sicherheit des Baues befürchten ließ, konnte durch sorgfältige Ausbesserung beseitigt werden. Die bis dahin unmittelbar über dem Triforium zwischen den Pfeilern angebrachte Verankerung wurde unter die Fenster verlegt. Ihre der Umgebung angepasste Bemalung lässt sie nicht zu sehr in die Augen fallen. Sorgfältige Erwägung und wiederholter Proben bedurfte die farbige Ausgestaltung des Chors. Besonders war das der Fall bei der Bemalung des Gitterfrieses, der Spitzgiebel oberhalb der Pfeilernischen und der darüber befindlichen Bänder. Überall fanden sich, und zwar in reicher Fülle, die großen, sechseckigen Sterne, die dann auch wieder vollauf zu ihrem Rechte kamen. Auch die schon früher wiederhergestellte Marienkapelle erhielt eine in Rot und Schwarzgrau gehaltene Ausmalung.

Vom Innern des Chors ging es zu seinem Äußern. Dies war der letzte der Herstellungsabschnitte. Hier machten die in drei Absätzen aufsteigenden Strebepfeiler mit ihrem reichen Schmuck von Rosetten und Wimpergen viel Arbeit. Fast alles musste daran erneuert werden. Leider konnte die als Abschluss dieser Bauteile dienende, früher vorhandene Galerie - das sie vorhanden war, ergab die Dachkonstruktion - aus Mangel an Mitteln nicht wiederhergestellt werden. Man musste sich darauf beschränken, über dem abschließenden Gesims einige Schichten einfacher Mauersteine bis zum Dachrande aufzuführen. Am Chorfries wurden die zwei vorgefundenen Formen abwechselnd angebracht. Große Aufwendungen erforderte auch die Marienkapelle, deren sechseckige, mit Köpfen und Wimpergen reich geschmückte Pfeiler in ihrer ursprünglichen Schönheit wieder aufgebaut wurden. Die darin vorhandenen Nischen mit Statuen zu schmücken, wie es früher gewesen war, erlaubten ebenfalls die Mittel nicht. Um den Pfeilern einen einigermaßen befriedigenden Abschluss zu geben, erhielten sie eine kurze Zuspitzung. Sie höher hinaufzuführen, ließ das weit ausladende Dachgesims nicht zu und eine Änderung des höchst charakteristischen, aus dem Jahre 1741 stammenden Daches, wollte man aus historischen Gründen nicht vornehmen. So wählte, man diese Lösung. An der Sakristei wurde der Ost - und Westgiebel erneuert, wobei man für den ersteren den letzteren zum Muster nahm, öffnete auch die auf diesen Seiten befindlichen zugemauerten Fenster wieder. Der zum Zwecke der Heizung der Sakristei früher auf der Südseite aufgeführte Schornstein wurde wieder beseitigt. auf Grund der Befunde wurden für die beiden an der Sakristei befindlichen Friese Muster ohne Glasuren gewählt. - Für die Heizanlage wurde nach einem im Ministerium der öffentlichen Arbeiten angefertigten Plane ein neues Kesselhaus aufgeführt, durch das leider der Blick von der Königstraße auf die Marienkirche, der besonders reizvoll ist, etwas verdeckt wird.

Sehr langsam ging es dann mit der weiteren Ausstattung und Ausschmückung der Kirche. Die Kapellen im Langhause wurden auf Grund der vorhandenen Spuren mit neuer Bemalung versehen. Die westliche Südkapelle, sowie sämtliche Kapellen im Chor wurden durch den Maler Linnemann aus Frankfurt a. M. erneuert. Die Bemalung des Altars, der Kanzel, der Orgelfacade und der beiden Aufbauten über den Windfängen des Nord- und Südturmes (Der Nordturm ist der hohe Turm) erfolgte durch den Maler Wildt aus Hannover.  - Das in Barockform gehaltene Gestühl ist ein Werk des hiesigen TIschlermeisters Ockel. Die nach alten Vorbildern verfertigten acht neuen Kronleuchter stammen aus der Werkstatt des Gelbgießermeisters Heiber hierselbst. Die Schmiedearbeiten an Türen und Fenstern lieferte Schlossermeister Zeitz. Die Herstellung der Orgel wurde dem Hoforgelbauer Grünberg-Stettin, die Bildhauerarbeiten den Bildhauern Elert-Stettin und Gottschalk-Stargard übergeben. Im August 1911 waren sämtliche Arbeiten vollendet. Am 30. August fand in Gegenwart Sr. Majestät des Kaisers und Königs und ihrer Majestät der Kaiserin und Königin die feierliche Weihe des herrlich wiedererstandenen Gotteshauses statt. Damit hatte ein Werk seinen Abschluss gefunden, das vor uns steht als ein bewährtes Denkmal für alle diejenigen, die durch ihre Sachkenntnis, ihre Energie und ihre Opferwilligkeit zur Vollendung der Kirche beigetragen haben, aber auch als eine herrliche Zierde unsrer Stadt.

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