Meine Heimat, der Stargarder Bahnhof

Als der Herr Vorsteher noch den Degen umschnallte

Karl Hanke
(Quelle: Die Pommersche Zeitung,
21. Februar 1959)
und Stargarder Jahresblatt 2006

Eines Kindes Heimat ist nur klein, aber wenn diese Heimat ein Bahnhof ist, dann weitet sie sich riesengroß. Die Gleise ziehen auch ein Kinderherz in die Ferne, denn auf ihnen kommen die Züge und verschwinden hinter der nächsten Kurve.

Von 1890 bis 1898 wohnten wir im Bahnhofsgebäude in Stargard, das wir damals „Empfangsgebäude" nannten. Von unserem Balkon über dem Eingang sahen wir den Droschkenplatz. Aber die andere Seite! Aus vier Fenstern konnten wir den ganzen Bahnhof übersehen. Die Bedachung des Bahnsteiges (wir sagten „Perron") lag damals noch über unseren Fenstern, sie wurde um 1900 tiefer gelegt.

Der Blick auf den Bahnsteig war immer aufregend. Nicht nur, wenn mein Vater im langen blauen Rock mit untergeschnalltem Degen dort seine Dienst tat, sondern auch wegen der vielen fremden Menschen, die auf ihre Züge warteten. Im Frühjahr und im Herbst war der Bahnsteig belagert von polnischen Schnittern, die zur Feldarbeit nach dem Westen fuhren oder von dort zurückkehrten.

Die Personenzüge hatten noch Seilbremsen, und ich beneidete die Männer, die auf den Wagendächern, die Seilrollen kontrollierten und von einem Wagen auf den anderen sprangen. Es wurde damals bei der Preußischen Eisenbahn viel geturnt. War nämlich ein Güterwagen von einer Lok abgestoßen worden, dann lief ein Bremser mit einem etwa ein Meter langen keulenförmigen Bremsknüppel nebenher, steckte im Laufen den Bremsknüppel zwischen Feder und Radnabe und legte sich mit dem Körper auf den nun seitlich abstehenden Knüppel, um durch sein Gewicht den Wagen zu bremsen. Diese Bremsart wurde durch Einführung der Hemmschuhe abgeschafft. Erstmalig wurden die Hemmschuhe 1888 au den Elsaß-Lothringischen Bahnen verwendet. Nach und nach übernahmen auch die anderen Staatsbahnen diese Neuerung

Nachts fuhren die Viehzüge durch den Bahnhof, und das Brüllen der Rinder und Kälber und all die anderen Tierstimmen drangen in unsere Träume. Stargard war in dieser Zeit ein wichtiger Viehumschlagplatz, und die großen Viehhallen in der Gneisenaustraße waren immer voll belegt. Die polnischen Gänse wurden in Gitterwagen mit drei Etagen befördert. Die Kreuzungen der Heiligen-Geist-Straße, Bahnhofstraße und Lehmannstraße waren noch schienengleich und fast immer durch Schranken gesperrt. Es gab auch damals schon zweistöckige Wagen für den Nahverkehr nach Karolinenhorst oder Hohenkrug. Einer dieser Wagen war noch viele Jahre später als Lagerraum an der Haltestelle Madüsee abgestellt.

1894 brachte mich meine Mutter in die Rosenbergschule, aber entweder gefiel mir das düstere Gebäude in der engen Straße nicht, oder ich fürchtete mich vor dem schwarzen Vollbart meines Lehrers Bohn (er ist 1958 im Alter von 90 Jahren in Schenefeld gestorben). Kaum hatte mich Mutter verlassen, da lief ich schon wieder nach Hause. Das wiederholte sich mehrere Tage, dann brachte mich der Bahnbote Schulz zur Schule, bis ich meine Fluchtgedanken aufgab. Ich ahnte damals nicht, dass später mein ganzes Leben der Schule gehören sollte. In dieser Zeit hatte der Buchbindermeister Adolf Schleiffer in der Johannisstraße Werkstatt und Laden eröffnet, und ich kaufte als einer seiner ersten Kunden bei ihm meine Griffel. Im Jahre 1894 wurde die Schröderschule gebaut, und im folgenden Jahre wurden das Schlachthaus und die Kleinbahn nach Daber in Betrieb genommen. Wieder ein Jahr später erhielt Stargard den schmucken Wasserturm und die Wasserleitung. Damals erlebte Stargard den ersten Film! Die Vorführung fand in den „Steinschen Sälen", dem späteren Stadttheater statt. Auf der Leinwand sahen wir einen Bahnsteig, aus der Ferne brauste ein Zug heran, Wagen rollten vorbei, dann hielt der Zug. Türen wurden geöffnet, Reisende stiegen ein und aus, dann fuhr der Zug ab. (Ich würde mich sehr freuen, wenn mir Stargarder von der ganz alten Generation, diese Erinnerung vielleicht durch eine Karte an die Schriftleitung bestätigen könnten.)

Zum 1. Juli 1898 wurde mein Vater nach Stettin versetzt. Meine Mutter hat damals viel geweint, denn Stargard war nicht nur ihr, sondern uns allen eine liebe Heimat geworden. Am 30. Juni verließen wir Stargard. Als unser Zug in Altendamm hielt, waren dort die Fahnen halbmast gesetzt worden. Auf unsere Frage erhielten wir die Antwort, dass Bismarck gestorben sei. Stettin hat uns zunächst sehr enttäuscht. Unsere Wohnung am Viktoriaplatz war so ruhig, dass uns das erste Gewitter furchtbar erschreckte. Wir waren ja im ständigen Lärm eines Bahnhofs aufgewachsen und hatten niemals auf ein Gewitter geachtet. Doch allmählich eroberten wir uns die neue Heimat. Wo später der Manzelbrunnen stand, war ein prächtiger Sandhaufen. In den Festungswällen und Kasematten der späteren Hakenterrasse spielten wir Räuber und Gendarm, und dort, wo nach 1900 die Baugewerkschule und die Friedensstraße entstanden, ließen wir auf Stoppelfeldern unsere Drachen steigen.

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