Die Fahrschüler nach Stargard i. Pommern

Siegfried Brunkow
Kastanienallee 18a
23562 Lübeck
Tel. 0451 599446
Stargarder Jahresblatt 2006

früher

Kuhblank
Kr. Greifenhagen

Wohlbemerkt, es waren keine Fahrschüler im heutigen Sinne (Erwerb der Fahrerlaubnis für Pkw/Lkw), sondern - wie man heute sagen würde Pendler -, die von ihrem Wohnort im Einzugsgebiet von Stargard/Pom. nach dort zur Schule fuhren. Stargard/Pom. war nicht nur das „Rothenburg des Nordens", ein großer Eisenbahnknotenpunkt an der Hauptstrecke Berlin-Stettin-Stargard/Pom.-Stolp-Danzig-Königsberg, sondern auch mit Abzweigstrecken nach Pyritz, Arnswalde-Kreuz, Wulkow-Kallies-Schneidemühl und die Stadt der bekannten Mampe-Liköre, auch eine große Schulstadt mit Lyzeum, Gymnasium, Oberrealschule und 2 Realschulen (damals Mittelschulen) für Mädchen und Jungen (zuerst auch Knaben). Es fuhren jeden Morgen die Mädchen und Jungen aus Wulkow, Pansin, Konstantinopel (nicht Türkei, sondern aus Richtung Kallies oder Freienwalde), Dölitz, Klütz und von der Hauptstrecke Stettin - Stargard/Pom. aus Seefeld, Madüsee, Moritzfelde, Brenkenhofswalde, Karolinenhorst (hier für die Schülerinnen und Schüler aus Reckow, Belkow, Spaldingsfelde, Kublank) mit den „Schülerzügen" der Deutschen Reichsbahn nach Stargard/Pom. und mittags zurück.

Nach dem damaligen Fahrplan fuhr der Zug für Karolinenhorster Fahrschüler um 7.12 Uhr ab und kam um 7.32 Uhr in Stargard/Pom. an. Schulbeginn war um 8.00 Uhr. Da hieß es dann zügig über Bahnhofstr./Wall/Rotes Meer/Holzmarktstr./Markt / vorbei an St. Marien zu laufen, um pünktlich in der Klasse zu sein. Die Rückfahrt war meist um 13.50 Uhr.

Als Fahrschüler hieß es immer früh aufstehen. Wenn die Stargarder Mitschüler/innen sich noch im Bett umdrehten, waren wir  schon auf den Beinen. Im Sommer ging es per Fahrrad nach dem Bf. Karolinenhorst. Das Rad wurde bei der Molkerei Baum unabgeschlossen abgestellt - und heute? Das letzte Stück zum Bahnhof ging es dann zu Fuß. Meistens lief der Zug aus Stettin schon ein, wenn wir angehechelt kamen. Später war auf dem Bahnsteig ein Fahrradständer, wo man sein Rad nach Kauf einer Monatskarte abstellen konnte.

Im Sommer machte das uns Fahrschüler/innen auch keine Schwierigkeiten. Aber die Winter - besonders 1939/40, 1940/41 und 1941/42 - waren mit minus 25 Grad und viel Schnee „saukalt". Durch den anhaltenden Ostwind waren die Schneeverwehungen so stark, dass man den Straßenverlauf nur noch an den Telegrafenmasten erkennen konnte. In dieser Not kam Rettung durch Großbauer Walter Krüger aus Belkow (110 ha), dessen Sohn Joachim und Tochter Ingrid mit uns nach Stargard/Pom. zur Schule fuhren. Er ließ den Pferdeschlitten von Herrn Mundt oder Sohn Arno Mundt anspannen und mit Schlittengeläut ging es zum Bahnhof und mittags wieder zurück.

Die Deutsche Reichsbahn war damals ein hervorragend geführtes Unternehmen mit einem hohen Pünktlichkeitsgrad! Die Bewohner an der Strecke Stettin-Stargard/Pom. konnten ihre Uhren nach der Zugfolge stellen. Und dann die Ordnung und Sauberkeit - auch in den Personenzügen - (heute RE). Wir Fahrschüler/innen hatten auch hohen Respekt vor dem Zugbegleitpersonal. Besonders vor einem Schaffner aus Stettin Hbf. Der hatte einen roten Vollbart. Von uns bekam er gleich den Spitznamen „Barbarossa". Zerkratzte Fensterscheiben, beschädigte Abteile oder Graffitischmierereien gab es zu unserer Fahrschülerzeit nicht. Und heute!?

Der Wagenpark der „Schülerzüge" bestand meist aus den alten preußischen Abteilwagen, bei denen rundherum ein Trittbrett lief, damit die Schaffner von Abteil zu Abteil gehen konnten, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Die Fahrschüler/innen hatten ihre getrennten „Schülerabteile". Wollte mal ein anderer Fahrgast in das Abteil, wurde ihm nur „Schülerabteil" zugerufen. Dann zog er wieder ab. Das Trittbrett rundherum benutzten auch wir Jungs, um mal während der Fahrt bei den Mädchen rein zu schauen. Das gab dann Ärger. Denn siehe, es ist eine ganz andere „Nation", die links knöpft und lange Haare hat!

Bespannt waren unsere „Schülerzüge" überwiegend mit der legendären Zuglok P 8 (Baureihe 38). Hin und wieder auch mit der P 10 (Baureihe 39) und ganz selten mit der S 10 (Baureihe 17). Wir Jungs kannten uns in den Lok-Baureihen schon gut aus. Ganz „aufgedreht" waren wir, wenn bei den D-Zügen D 23 Berlin-Königsberg (Stargard/ Pom. an 13.46 Uhr), oder umgekehrt D 20 Königsberg-Berlin (Stargard/Pom. an 13.31 Uhr) mit der imposanten Lok 03 Lokwechsel war. Die Treibräder der 03 waren meist größer als wir 13-14-jährigen Bengels. Die sprichwörtliche Pünktlichkeit der „Schülerzüge" kam erst zeitweilig ins Wanken bei Ausbruch des Krieges (1.9.1939) und wenn Stettin Fliegeralarm oder Bombenangriffe hatte. Bis zur Ankunft des Zuges kloppten wir dann in der Bahnhofsgaststätte von Elise Birr eine Runde Skat! Dann fiel für uns manchmal die 1. Unterrichtsstunde aus. Da freuten wir uns, nicht ahnend, dass wir den Lehrstoff ja nachholen mussten. Unser Schulbüro fragte auch beim Bahnhof nach, ob unser Zug nicht planmäßig war.

Ich erinnere mich noch an den Tag des Kriegsausbruches 1.9.1939, als ich mit meinen Mitfahrschülern/innen Waltraud Lose, Ingrid Krüger, Erika Siedschlag, H. J. Kuhn, Lothar Neumann, Hänschen Krause, Joachim Krüger und meine Schwester Lucie in Karolinenhorst auf dem Bahnsteig stand und auf unseren „Schülerzug" warteten. Stattdessen rollte ein Militärzug nach dem anderen Richtung Osten! Da  dachten wir mit 14 Jahren der Krieg ist bald vorbei, da bekommen wir nichts mehr ab. Es kam leider anders!

Im Jahr 1940 wurde die Mädchenschule im Goethepark Lazarett. Dann hatten wir mit den Mädchen in unserer Jungenschule Schichtunterricht (Früh/Spät) im wöchentlichen Wechsel. In der Spätwoche fuhren wir dann mit dem Fahrrad zur Schule. Wir Fahrschüler/innen waren eine verschworene Gemeinschaft mit einer hervorragenden Kameradschaft, die bis heute anhält. Wo gibt es das noch heute?

In diesem Zusammenhang ist noch interessant, wie viel km wir in unserer Fahrschülerzeit gefahren sind: Das Jahr hat 365 Tage, hiervon entfallen auf Sonntage (Sonnabends war Unterricht), gesetzliche Feiertage, Oster-, Sommer-, Herbst- und Weihnachtsferien = 138 Tage. 365 - 138 Tage = 227 Schultage. 6 Jahre (1936-1942) Schulzeit = 227 x 6 = 1.362 Tage auf der Eisenbahn. Die Schienenentfernung von Karolinenhorst nach Stargard/Pom. betrug Hin- u. Zurück = 24,6 km. Zurückgelegte Entfernung während der gesamten Schulzeit: 24,6 km x 1.362 Tage = 33.505,2 km. Der Erdumfang am Äquator beträgt 40.076,6 km, also betrug unser Schulweg als Fahrschüler/innen fast den Erdumfang.

Trotz der Wirren des schrecklichen Krieges haben unsere Lehrer Bremer (Rektor), Stabenow (Konrektor), Dr. Strehlow, Bastian, Schmechel, Raakow, Labs, Wendt, Völz, Zank u. a. uns ein fundamentales Wissen mit auf den Lebensweg gegeben, wofür wir ihnen bis an unser Lebensende dankbar sind. „Pisa-Schüler" wurden wir nicht!

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